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Rover P6 Estoura

Published in radical-mag.com

«It needs an acquired taste»

Vor einiger Zeit wurde auf diesen Seiten ja der wunderbare Rover P6 vorgestellt, ein einerseits sehr britischer und andererseits zu seiner Zeit sehr moderner Wagen der gehobenen Mittel- oder auch der kompakteren Oberklasse. Der P6 war auf eine eher – in der allgemeinen Rezeption – untypische Weise britisch, repräsentierte er doch nicht unbedingt das, was man sich auf dem Kontinent gemeinhin als typisch Britisch vorstellt(e): Kein wurzelholzgetäfeltes Herrenzimmer auf Rädern, nicht Harris-Tweed und Dunhill-Pfeife, nicht zwingend vor einem Townhouse in Mayfair oder einem Country.House in den Cotsworlds verortet, atmosphärisch eher vor das Barbican-Center passend, das grosse, moderne Kulturzentrum mit umgebender Wohnbebauung, welches in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts im nördlichen Zentrum Londons entstanden war.

Und modern war auch der Rover P6, formal und technisch, er war aus dem ingenieusen Geist eines Nachkriegs-England heraus entstanden, einem Geist, der exzellente Sozialwohnbauten ebenso hervorbrachte wie wegweisende Flugzeuge wie den Senkrechtstarter Harrier und das Überschallflugzeug Concorde, die Vosper-Schnellboote und die Hoovercrafts. Cool Britannia gab es eben schon in den Sixties: Das Design war aerodynamisch, die Technik mit einer weiterentwickelten DeDion-Hinterachse, aufwendiger Vorderradaufhängung und dem Vorsatz, den Wagen mit der noch zu entwickelnden Gasturbine auszurüsten, extrem modern und aufwendig, das Interieur modernistisch mit einer Mischung aus Breitbandtacho, konventionellen Rundinstrumenten und einem «Sicherheitsarmaturenbrett».

Und somit stellte er auch einen Bruch in der Rover Geschichte dar, der direkte Vorgänger, der staatstragende P5, war eher ein klassischer Brite, bevorzugtes Fortbewegungsmittel des Kabinetts und auch des Königshauses. Sein Nachfolger sprach nunmehr auch andere, jüngere und modernere Käuferschichten an, er konkurrierte mit Fahrzeugen wie dem Triumph 2000 und 2500, der Citroën DS, dem Volvo 140 und dem Ford Zodiac MK IV, dem Vauxhall Cresta, dem Humber Super Snipe. Der Rover wurde vom «well-heeled Businessman» ebenso gekauft wie von der «Upper Middle Class», er war Polizeifahrzeug, Geschäftswagen, Regierungslimousine, Familienauto, er war fein, ohne protzig zu sein, vergleichsweise kompakt, ohne zu eng geschnitten zu sein, er war modern, ohne aufgesetzt zu wirken. Andererseits war er etwas konservativ, ohne verstaubt zu wirken, er war – vor allem als Achtzylinder – angemessen schnell. Nur als Kombi gab es ihn nicht, im Gegensatz zum Citroen, zum Volvo, zum Ford, zum Triumph und den anderen Konkurrenten.

Wer die Gewohnheiten der britischen «Upper Middle Class» etwas näher kennt, der weiss um die Liebe dieser Gesellschaftsschicht zu Landleben, aufwendigen Sportarten und Reisen auf den Kontinent. Und einen latenten Hang zu einer gewissen Exzentrik: Lilafarbene Cordhosen, das Schiessen auf tönerne Scheiben, Lammfilet mit Pfefferminzsosse, Cricket, den Polosport und die Musik von Edward Elgar. Und Kombivarianten von dafür eher untypischen Fahrzeugen:
Aston Martin DB 5, 6 und S, Jensen Healey, Bentley S. I bis III, Reliant Scimitar und sogar Lotus Elan. Und eben vom Rover P6, einem Auto, das allein durch die Karosserieform und insbesondere die Dachlinie denkbar ungeeignet für den Umbau zum Kombi war.

H.R. Owen im Londoner Stadtteil Mayfair war der Lieferant für feine Automobile in der City, schon seit vor dem Krieg und bis heute, man vertrat zahlreiche Nobelmarken und in den holzgetäfelten Räumen am Berkley Square hatte man wohl die Idee, einen Kombi auf Basis des Rover P6 entwickeln zu lassen. Dafür wählten die Herren bei H.R. Owen die Firma FLM Panelcraft in Battersea, diese hatte für verschiedene Firmen Karosserieumbauten an existierenden Fahrzeugen vorgenommen und zeichnete auch verantwortlich für mehrere Shooting Break auf Basis des Aston Martin DB6 und DBS, sehr ungewöhnlich war auch der Umbau einer Serie von klassischen Austin London-Taxis für den sagenumwobenen Milliardär Nubar Gulbenkian zu etwas skurrilen, sehr luxuriösen Chauffeurlimousinen.

Wer den Entwurf des P6 Estate bei FLM Panelcraft angefertigt hat, ist nicht bekannt, aber ungewöhnlich geriet er auf jeden Fall, die abfallende Dachlinie der Limousine wurde mit dem Geodreieck weiter gezogen, die Kotflügellinie blieb unverändert erhalten, hintere Seitenfenster und die Heckscheibe waren plan ausgeführt und wurden mit etwas rustikal zusammengeschraubten Dichtleisten eingefügt, die Heckklappe schnitt ein Stückchen in das Dach ein und wurde durch aussenliegende Scharniere gehalten. Dadurch, dass das Dach abfallend gestaltet war, ergab sich zwar eine recht elegante Form, allerdings geriet die Heckklappe und die Öffnung dahinter ziemlich klein. Dazu kam ein sehr hoher Laderaumboden, unter dem ein neugeformter Tank und das Reserverad Platz fanden, die Rückbank wurde umklappbar gestaltet und der Laderaum mit feinem Teppich ausgekleidet, das Interieur wurde wohl bei einem anderen Karosseriebauer, der bekannten Firma Crayford, ausgeführt. Unten der Vorführwagen von H.R. Owen, man beachte das Kontrollschild!

«Estoura» wurde er genannt, eine Kombination aus Estate und Tourer. Und das war er auch, einer der ersten Lifestyle-Kombis, wenig praktisch, ziemlich stylish, ziemlich teuer, die Basisversion mit dem 2-Liter-Vierzylindermotor kostete bei der Präsentation 1969 fast 2400 Pfund, mehr als ein Jaguar XJ6 4,2. Und als 3,5-Liter-Achtzylinder kostete der Wagen fast 2800 Pfund, das war dann: ernsthaft exzentrisch. Allerdings: Die Verarbeitung war grauenhaft, das neue Dach wurde mit Poppnieten an den bestehenden Teil des Daches angepasst, die Heckklappe machte einen ziemlich gebastelten Eindruck, die neuen Fensterrahmen passten überhaupt nicht zu den Rahmen der anderen Fenster, Spaltmasse und Passungen waren mehr als rustikal. Aufgrund des angefügten Daches wurden die allermeisten Estouras mit einem Vinyldach versehen, ähnlich wie beim Jaguar XJ Coupé konnte man damit die saumässigen Blecharbeiten elegant kaschieren. Ob die Verarbeitungsqualität, die exzentrische Form, der hohe Preis oder das begrenzte Platzangebot der Grund dafür waren, dass nur ca. 220 Exemplare, davon die meisten mit Achttzylindermotor, hergestellt wurden, ist natürlich nicht bekannt, mit der Einstellung der Produktion des Rover P6 endete naturgemäss auch die Produktion des Estoura. Über die Anzahl der noch existierenden Exemplare herrscht Unklarheit, man geht von ca. 50 Exemplaren aus, angesichts der Verarbeitungsqualität und der daraus resultierenden Korrosionsfreudigkeit eine erstaunlich grosse, verbliebene Population. Von Zeit zu Zeit tauchen immer mal wieder Fahrzeuge in den Verkaufsportalen auf, in teilweise sehr unterschiedlichen Zuständen, aktuell bietet der renommierte Londoner Händler Graeme Hunt ein offenbar sehr aufwendig restauriertes Exemplar an:

Und vor ein paar Jahren stand dieser in einem ganz ordentlichen Zustand befindliche Wagen bei Hillfarm Automotives in Little Addington zum Verkauf:

Nicht original, dennoch sehr schön, ist dieses Exemplar, das tiefe Dunkelblau-Metallic gab es bei Rover ebensowenig wie das Faltdach und die Dachreling, beides sehr zeittypisches Zubehör und deshalb durchaus stimmig:

«It needs an acquired taste», sagt man in England zu Dingen oder Verhaltensweisen, die sich dem Normalbürger eher selten erschliessen. Vom Pferd aus eine Art Hockey zu spielen und sich dabei vielfältigste, komplizierte Knochenbrüche zuzulegen, zum Beispiel, oder bei Nieselregen stundenlange Cricket-Turniere zu beobachten, Porridge zu essen, sich Mütze, Jackett, Weste und Mantel aus dem gleichen kratzigen Tweed schneidern zu lassen oder eben einen Rover P6 Estoura zu fahren. Angeblich besass die Schwester von Königin Elisabeth II, Princess Margret, einen Estoura, hiervon gibt es aber leider kein Photo, was als Beleg dienen könnte. Angesichts des Autogeschmacks ihres Ehemanns, des Photographen Anthony Armstrong-Jones, der neben seinem Aston Martin DB5 Convertible einen bei Hooper veredelten Mini Cooper fuhr, ist diese Fahrzeugwahl aber durchaus vorstellbar.

Wir bedanken uns herzlich bei unserem Leser Hugo Servatius für diesen Beitrag. Selbstverständlich ist das jederzeit möglich, solche Leserbeiträge. Andere spannende Fahrzeuge haben wir im Archiv.

Der Beitrag Rover P6 Estoura erschien zuerst auf radicalmag.