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radical #2: Fahrbericht Volvo 142 und 144

Published in radical-mag.com

Achtsamkeit

Und man staunt dann schon, wie gut das vorwärtsgeht. Der B20-Motor von Volvo ist zwar nicht gerade berühmt für seine Drehfreude, 90 PS erscheinen nun auch nicht gerade wild für ein doch 1,2 Tonnen schweres Fahrzeug; geschaltet wird über einen gefühlt etwa einen Meter langen Stock, doch auch das geht gut, da haben wir bei neueren Fahrzeugen schon deutlich hakeligere Getriebe erlebt. Und so geht es dann ziemlich flott über die Landstrasse, die Neigung in den Kurven ist heftig, die Gummis pfeifen – und es ist ein wahrlich fröhlicher Fahrspass in einem Geschwindigkeitsbereich, in dem die Rennleitung noch nicht die Flagge schwingt. Gut, am Berg kommt unser Volvo 142 mit Jahrgang 1971 dann schon etwas ins Keuchen, enge Biegungen sind sein Ding auch nicht unbedingt, doch das Lächeln des Piloten bleibt, er ist Herr der Lage, braucht Kraft an der Lenkung, schaltet halt viel öfter als bei einem modernen Drehmoment-Monster, bremst viel früher, weil es halt schon ganz anders verzögert als bei einem aktuellen Modell. Das ist alles noch sehr analog – wie die Instrumente des Schweden. Und weil es so ist, alles etwas schwergängiger oder gar nicht erst vorhanden (Spurhalteassistent, das ganze Gepiepse, etc.), ist es eine sehr friedvolle Erfahrung von klassischer Fahrfreude.

Man würde es dem Volvo gar nicht so recht zutrauen, doch seine Karriere begann wahrhaft dramatisch. Am 17. August hätte er seine Weltpremiere erleben sollen, ein grosser Anlass, zeitgleich in Göteborg, Olso, Kopenhagen und Helsinki. Doch während zwei Tage vorher unter grösster Geheimhaltung drei Kisten mit je einem Volvo 144 in das Veranstaltungslokal in Göteborg gehievt wurden, erfuhr die schwedische Polizei, dass sich zwei Polizistenmörder in einem Kino nebenan in aller Ruhe einen Film anschauten. Die Umgebung wurde abgeriegelt, das Kino evakuiert – und das Geheimnis des Fahrzeugs, über das die Presse schon seit Jahren spekuliert hatte, gelüftet. Die Journalisten hatten dem neuen Volvo während der langen Jahre seiner Entwicklung sogar einen Kosenamen verpasst, Mazou.

Schon im Juni 1960 hatte die Volvo-Führung unter Gunnar Engellau ein erstes Lastenheft für das Fahrzeug mit dem internen Code P660 verabschiedet. Dass die Entwicklung so lange dauerte, ist insofern etwas erstaunlich, als dass die neue Modellreihe mit dem gleichen Radstand und auch der gleichen Motorisierung auf den Markt kam wie schon der Volvo P120, der Amazon. Die Schweden wollten sich aber dem (damals noch gar nicht bestehenden) Premiumsegment annähern, also legten sie besonders viel Wert auf Qualität und Sicherheit – und bauten sich auch gleich noch zwei neue Werke, eines im schwedischen Torslanda, eines im belgischen Gent. Und neue Typenbezeichnungen gab es auch noch, die 1 für die Modellreihe, die 4 für die Zylinderanzahl – und die letzte Ziffer für die Anzahl der Türen. Damit ist dann auch klar, dass der 142 der Zweitürer ist (ab Frühling 1967), der 144 der Viertürer (ab dem 19. August 1966), der 145 der Kombi (ab Modelljahr 1968); ab 1969 gab es dann auch noch den 145 Express mit erhöhter Dachlinie.

Das unverwechselbare Design stammte, wie könnte es bei Volvo anders sein, von Jan Wilsgaard. Und es war im Vergleich zum Amazon ein Quantensprung, was vorher rund war, wurde kantig, was vor Barock war, wurde Bauhaus. In den 60er Jahren war auch im automobilen Design die Erkenntnis gereift, dass die Form der Funktion folgen sollte. Wohl nie vorher war ein Wagen derart eindeutig nach dem 3-Box-System gestaltet gewesen, man hatte fast das Gefühl, dass sich das Heck und die Front austauschen liessen. Wilsgaard verpasste dem P660 eine so klare Linie, dass diese bis heute zu den Design-Merkmalen von Volvo gehört; neu (oder zumindest: anders) war die für die damalige Zeit sehr üppige Verglasung. Und ein Innenraum, dessen Raumangebot jenem des P120 trotz des gleichen Radstandes deutlich überlegen war. Besonders kreativ oder gar «Schöner Wohnen» verpflichtet bei der Interieur-Deko zeigten sich die kühlen Schweden allerdings nicht. Dass das Armaturenbrett mit Kunststoff gepolstert war, diente nicht dem Aussehen, sondern war den Sicherheitsbestrebungen geschuldet.

Überhaupt: «safety first». Karosse und Plattform des Volvo 140 waren für die damalige Zeit aussergewöhnlich verwindungssteif, die Fahrgastzelle verfügte erstmals über berechnete Knautschzonen sowie einen integrierten Überschlagskäfig. Die Lenksäule hatte eine neuartige Sollbruchstelle, die Türschlösser war unfallsicher und die Dreipunktgurten waren auch hinten serienmässig (später sogar: Kopfstützen auch hinten). Auch ganz neu waren das Zweikreis-Bremssystem für die Scheibenbremsen (vorne und hinten) sowie zwei Reduzierventile, die das Blockieren der hinteren Räder bei einer Vollbremsung verhinderten. Wobei, viel zu bremsen gab es ja anfangs nicht. Die Volvo 140 erhielten zuerst die B18-Motoren aus dem P120, 75 PS in der Standard-Version, 100 PS mit dem Doppelvergaser. Ab Modelljahr 1969 kamen dann die neuen B20-Maschinen zum Einsatz, die Leistung stieg in der Basis auf 82 PS, die schärfsten Geräte waren die 1971 vorgestellten 142 GT, die es mit Benzineinspritzung auf beachtliche 124 PS brachten. Und dann war ja da auch noch der 164 mit seinem B30-Reihensechszylinder mit 3 Liter Hubraum und 145 PS. Aber das ist eine andere Geschichte, er hatte ja auch einen längeren Radstand. Spannend wäre in diesem Zusammenhang noch das Thema mit dem Werkstuning, Volvo vertrieb unter dem Label «R-Sport» einige ganz interessante Kits, das schärfste trug die Bezeichnung «Stage IV» und brachte die Leistung auch über eine Hubraumerhöhung auf 2,2 Liter auf doch 190 PS bei 6500/min und 229 Nm maximales Drehmoment bei 4700/min.

1974 wurde der 140 vom 240 abgelöst, der aber eigentlich das Gleiche in Grün war. Von der Modellreihe 140 wurden in acht Jahren stolze 1’251’371 Exemplare verkauft, er war damit selbstverständlich der bis dahin meistgebaute Volvo. Und er trug viel zum guten Ruf der Marke bei, auch international – in Deutschland, zum Beispiel, wurden 1973 sechs Mal so viele Volvo verkauft wie noch 1967. Heute sieht man sie allerdings selten, viele mussten ihren Antrieb für die deutlich begehrteren P120 hergeben, dazu frass noch der Rost – an den belgischen Fahrzeugen deutlich mehr als an den schwedischen. Unser Proband, ein «de Luxe» aus dem Jahr 1971, hat dieses Problem nicht, er wirkt sehr sauber und überhaupt nicht so, als ob er über 50 Jahre alt ist. Zur Verfügung gestellt wurde uns das Fahrzeug von der Oldtimer Galerie in Toffen.

Dann noch dies: Gesamtenergiebilanz. Das ist ein wichtiges Thema für Volvo. Man versucht das im Griff zu haben bis weit hinunter in die Zuliefererkette, was nicht ganz so einfach ist. Doch die Schweden sind sich da der allfälligen Probleme viel bewusster als die anderen Hersteller, sie wollen alles ganz genau wissen. Da, wo andere bewusst wegschauen, schauen sie ganz genau hin. Aber das hat Tradition in Schweden: Ein Volvo war nie einfach nur ein Gebrauchsartikel – er soll gefälligst für alle Ewigkeit gebaut sein. Denn früher, da konnte man sich vielleicht alle 15, 20 Jahre ein neues Automobil leisten. Und mit dem Gebrauchten sollten dann die Enkel auch noch ihre Erfahrungen machen können.

Auch wenn das die Hersteller heute natürlich nicht gerne lesen, denn man lebt ja von den Neuwagenverkäufen, doch jedes einzelne nicht neu gebaute Auto ist ein wichtiger Beitrag zur Schonung der Ressourcen. Wer also seinen alten Volvo hegt und pflegt und bewahrt, der trägt seinen Teil zur Nachhaltigkeit bei. Und weil die früheren Volvo ja stabil sind, auch im Alter viel weniger Probleme machen als Fahrzeuge anderer Hersteller, einfach zu reparieren und über Jahrzehnte sehr, sehr cool bleiben, ist gerade bei solchen Fahrzeugen Achtsamkeit geboten. Und am Schluss nützt es dem Hersteller, in diesem Fall Volvo, ja auch wieder: Jeder Klassiker auf der Strasse ist ein Imagegewinn. Die potenzielle Neukundin kann das Gefühl haben, dass sie da ein Auto kauft, das die nächsten paar Jahrzehnte überdauern wird.

Ganz abgesehen davon: So ein Vintagemodell hat einfach Stil. Mann wie Frau ist mit einem klassischen Volvo jederzeit gut angezogen. Understatement der gehobenen Klasse. Und: Wir haben es wieder getan, wir sind wieder einen alten Volvo gefahren. Das muss hin und wieder sein, das tut gut, es erdet. Kein PS-Geprotze, keine Drehmoment-Exzesse, bloss ein unendlich langer Schaltstock, ein nicht wirklich drehfreudiger Motor, ein doch sehr weich abgestimmtes Fahrwerk, eine nur einigermassen präzise Lenkung, Bremsen, die noch Kraftaufwand brauchen und dann doch nicht wirklich verlangsamen. Man fährt so anders als in einem modernen Automobil, viel ruhiger, entspannter, ja, auch gemächlicher, geniesst die Landschaft, geniesst es, dass das Auto nicht dauernd piepst und alles besser weiss. Es ist dies auch eine Art Meditation, der Volvo als Yoga-Matte (und erst noch viel bequemer), vielleicht sollte ich meine Krankenkasse einmal fragen, ob sie mir diese Ausflüge nicht bezahlt, mentale Gesundheitsförderung, eine Stunde pro Woche. Auch diesen Volvo hat uns die Oldtimer Galerie Toffen zur Verfügung gestellt, es ist ein 144 GL mit Jahrgang 1972, er wird am 22.03.2025 versteigert, einen Schätzpreis gibt es noch nicht.

Mehr Volvo finden Sie in unserem Archiv. Es ist dies eine (erweiterte) Story aus unserer Volvo-Beilage in unserer Print-Ausgabe radical #2. Deren Inhaltsverzeichnis finden Sie hier.

Der Beitrag radical #2: Fahrbericht Volvo 142 und 144 erschien zuerst auf radicalmag.