Peugeot 302
Windschlüpfigkeit
Mitte der 30er Jahre tat die Welt gut daran, noch einmal von Fortschritt und einer geschmeidigen Zukunft zu kosten, die vor allem in der Luft stattzufinden hatten: Das Flugzeug hatte die Sinne geschärft für Aerodynamik, für Linien, die schon im Stand von Geschwindigkeit kündeten (na ja, ein bisserl hatte die Anatomie der Fische auch beigesteuert), und die Fahrtrichtung führte immer Richtung Wohlstand. Zumindest theoretisch. Weil die meisten Menschen aber nicht im Flugzeug sassen, sondern am Fahrrad oder bestenfalls am Motorrad, verirrte sich die Stromlinie auch an Gegenstände, denen Windschlüpfigkeit egal sein konnte: Möbel, beispielsweise, oder Küchenwaagen. Ans Auto, dem der Wind immer im Weg stand, wollten die neuen Linien nur schaumgebremst finden: Der Chrysler Airflow als erstes Serienauto in konsequenter Stromlinie war ab 1934 in den USA grandios erfolglos. Der Absturz wurzelte auch in Qualitätsproblemen, aber das Design der Zukunft hatte die potenziellen Käufer einfach in der Gegenwart zurückgelassen. Erst eilig aufgelegte Modelle in alter Biederkeit brachten Chryslers Kunden wieder zurück, da war der Ruf des Airflow schon ruiniert.
Dennoch erschien 1935 in Frankreich, traditionell flexibler mit Sendboten aus der Zukunft, der Peugeot 402 als Blaupause des Chrysler Airflow: sehr ähnliche Formgebung besonders am Heck, radikale Front ohne abstehende Scheinwerfer, die sassen eng beieinander hinter dem Kühlergrill. Die geknickte Frontscheibe schien ebenso direkt aus dem Flugzeugbau zu kommen wie das Armaturenbrett, dem Wegfall des Trittbrettes hatte Hauptkonkurrent Citroën den Weg geebnet: 1934, bei der Präsentation des Traction Avant, war ein trittbrettloses Auto ein handfester Skandal. Beim neuen Peugeot blieb die Entrüstung moderat, im Gegensatz zum Preis: rund 30’000 Francs – umgerechnet auf heutige Kaufkraft kostete der 402 so viel wie eine prächtig ausgestattete S-Klasse.
Um den Abstand zu den potenziellen Kunden zu verringern, reichte Peugeot ein Jahr später den kleineren 302 nach: mit 4,50 Meter um 35 cm kürzer, 7 cm schmäler, gleich hoch, mit 1,7-Liter-Motor und 43 PS. Technisch waren 302 und 402 aus einem Guss. Beide boten Einzelradaufhängung vorne an einer Querblattfeder («Schwingachse»), hinten gab’s eine Starrachse, die unkonventionell an den hinteren Enden der Längsblattfedern befestigt war. 302 wie 402 standen auf einem klassischen Rahmen, er baute ungewöhnlich flach und endete mit der Hinterachse. Weitere Neuerungen: Sicherheits-Zapfenschlösser, ein Radio (mit 1500 Francs horrend teuer), während das elektromagnetische Viergang-Cotal-Vorwählgetriebe dem 402 vorbehalten blieben.
Freilich waren Peugeots neue Modelle die Antwort auf den Citroën Traction Avant. Technisch war der frontgetriebene, selbsttragende Citroën mit hydraulischen Bremsen weit voraus, allerdings waren nicht alle Lösungen alltagstauglich. Dass das Dreiganggetriebe eine Notlösung war, weil sich die geplante Automatik nicht domestizieren liess, merkten die Käufer am bruchgefährdeten Gehäuse. Auch die Fragilität der Antriebswellen zeugte davon, dass der Frontantrieb 1934 noch eine junge Technologie war. Peugeots 302 und 402 hingegen waren technisch gutmütig wie Golden Retriever: Die soliden Motoren verlangten keine Aufmerksamkeiten übers Routineservice hinaus, gestrig präsentierten sich nur die Seilzugbremsen. So kam die Rollenverteilung schnell von selbst: Der Traction Avant war für die perfekte Strassenlage zuständig, der Peugeot war komfortabler und bot das revolutionärere Design.
Beim Fahren fühlt er sich bis heute kaum gestrig an: Der Lenker arbeitet nicht, er bedient die technischen Organe des Automobils, lässt feinnervig die Handgriffe ineinander fliessen, berührt Chrom oder Bakelit, gönnt den Zahnrädern des Getriebes etwas Zeit, um zueinander zu finden, fährt sonst aber erstaunlich modern, aufrecht, luftig. Lediglich an der Breite merkt man, wohin Autos bis heute gewachsen sind. Und lenken sollte man nie im Stand: Es geht nämlich nicht, und wer die Umlenkungen des Gestänges verfolgt, ahnt die Gründe. Autofahren bestand in der Vorkriegszeit noch mehr aus Ritualen denn aus Beiläufigkeit, das beginnt schon beim Starten: Zündung ein, Zündzeitpunkt Richtung Frühzündung einjustieren, Choke ziehen, Startzug ziehen. Dennoch ist das Armaturenbrett schlicht und aufgeräumt: Der Lichtschalter sitzt in der Lenkradnabe, die Heizung trägt man am Körper. Beschlagen die Frontscheiben, dann stellt man sie ein wenig aus und fächelt ihnen (und sich) Luft von aussen zu. Auch verfügt der 302 über eine geniale Vorrichtung zum Benzinsparen. Man dreht dazu an einem Rädchen und beschränkt so den Gaspedalweg.
Es gab den 302 auch als Cabrio, für die weit grössere Modellvielfalt war der 402 zuständig, von dem auch ein Blechdach-Cabrio (Eclipse) aufgelegt wurde oder eine abermals aerodynamischere, von Jean Andreau entworfene Version mit üppiger Heckflosse. Legendär wurden auch die offenen Sportkarosserien, die der Pariser Peugeot-Händler Emile Darl’Mat angeregt hatte. Freilich war auch der 302 unverschämt teuer in einer Welt, die noch die Wunden der Wirtschaftskrise leckte, also schrumpfte Peugeot die Stromlinie 1938 abermals. Der 202 sah dann schon ein wenig nach Karikatur des Fortschritts aus mit seiner knubbeligen Karosserie, aber nach einer höchst sympathischen: 1133 ccm, 30 PS und Platz für vier waren ein gesundes Mass in den späten 30er Jahren, somit überflügelte er die beiden üppigeren Modelle bei den Verkaufszahlen auf Anhieb, bis der Zweite Weltkrieg die Produktion ziviler Autos gewaltsam erliegen liess. Vorerst. Denn schon 1946 rollte der 202 als Peugeots erster Vorschlag einer Nachkriegsmotorisierung wieder auf die Strasse, wo er den Weg ebnete für die solide Erfolgsstory der 50er und 60er Jahre. Aber nie wieder sollte das Design eines Peugeot seiner Zeit so weit voraus sein.
Herzlichen Dank an unsere Freunde von der «auto revue». Mehr schöne Klassiker haben wir in unserem Archiv.
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