Ferrari 330 TRI/LM
Das letzte Rotkäppchen
Das letzte Auto einer Modellreihe, so sagt man, sei das beste. Es ist technisch ausgereift, sämtliche Kinderkrankheiten sind ausgeheilt, der Hersteller weiss, wo er ans Limit gehen kann. Und wo besser nicht. Auch aus diesem Grund haben wir es hier mit einem wahrhaft einzigartigen Fahrzeug zu tun. Vom Ferrari 330 TRI/LM Testa Rossa Spyder existiert genau ein Exemplar. An dessen Steuer gewannen Phil Hill/Olivier Gendebien 1962 die 24 Stunden von Le Mans (es war ihr dritter Sieg als Ferrari-Team, der vierte in Folge von Gendebien). Dieser war der letzte Rennwagen mit Frontmotor, der in Le Mans den Sieg schaffte. Er sollte der letzte Testa Rossa von Ferrari werden (wenn man von den Strassenfahrzeugen absieht, selbstverständlich), und er war der einzige je gebaute Testa Rossa mit einem 4-Liter-V12.
Testa Rossa: Die vielleicht legendärste Modellreihe von Rennfahrzeugen, die Ferrari je gebaut hatte, nahm ihren Anfang im Jahr 1956 (wie es dazu kam, haben wir schon einmal geschildert, hier). Es war eine schwierige Zeit im GT-Sport, damals als «World Sports Car Championship» ausgetragen: 1954 hatte es während der Carrera Panamericana mehrere Tote gegeben. 1955 kam es beim Unfall von Mercedes-Pilot Pierre Levegh in Le Mans zum grossen Desaster. Medien, Politiker und auch Zuschauer verlangten ein Ende des Wettrüstens der immer stärkeren und schnelleren Fahrzeuge, die deshalb entstanden, weil das Reglement keinerlei Beschränkungen vorsah.
Ferrari warf seinen nicht unwesentlichen Einfluss in die Waagschale und verlangte eine 3-Liter-Formel. Dies natürlich im Wissen, gleich drei passende Motoren im Angebot zu haben: den 4-Zylinder aus dem 750 Monza, den Lampredi-V12, der im 315S und 335S seinen Dienst versah, und die Colombo-Maschine, der bereits legendäre Zwölfzylinder, der schon die allerersten Ferrari angetrieben hatte. Letzterer war zwar schon einige Jahre alt, doch wurde er von Konstrukteuren wie Colombo, Lampredi, Jano und Bellentani zu immer neuen Höhen getrieben. Der erste Testa Rossa, der 500 TRC mit einem 2-Liter-Vierzylinder-Motor, trat im Juni 1956 in Monza zu seinem ersten Rennen an. Peter Collins/Mike Hawthorn konnten gleich beim ersten Auftritt gewinnen. 1957 erhielt ein erster Testa Rossa den 3-Liter-V12 und eine Scaglietti-Karosserie – die Legende war geboren.
In allen Rennen, in denen die Rotkäppchen antraten, waren sie nie schlechter als im fünften Rang klassiert. Die Siege aufzuzählen würde mindestens den Raum eines Buches beanspruchen, es seien hier nur die Erfolge im damals wichtigsten aller Rennen, den 24 Stunden von Le Mans, erwähnt. 1958 gewannen Hill/Gendebien (Chassisnummer #0728), 1960 Frère/Gendebien (TR 59/60, #Chassisnummer 0772/0774), 1961 wieder Hill/Gendebien (TRI 61, #Chassisnummer 0794). Sie waren ein eigenartiges Team, der Amerikaner Phil Hill und der Belgier Olivier Gendebien. Hill war Sohn eines Postbeamten, hatte die Schule abgebrochen und war bekannt für seinen Kampfgeist, sein grosses technisches Verständnis und seine Fähigkeit, die Limiten seiner Fahrzeuge perfekt ausreizen zu können. Gendebien dagegen kam aus gutem Haus, war Sohn eines Diplomaten, ein wahrer Gentleman, der seine Rennwagen jederzeit im Griff hatte. Hill war laut, ein Selbstdarsteller, Gendebien mehr introvertiert. Gemeinsam waren sie fast unschlagbar.
Für das Jahr 1962 galt wieder einmal ein neues Reglement. Die 3-Liter-Sportwagen wurden abgeschafft und durch eine 4-Liter-Klasse ersetzt. Für die «Speed and Endurance World Challenge», die aus dem Rennen in Sebring, der Targa Florio, den 1000 Kilometern auf dem Nürburgring und Le Mans bestand, wurde zudem noch eine «Experiment»-Klasse zugelassen. Ferrari konnte da eigentlich nicht mehr mitmachen, weil all seine Sportwagen mittlerweile Mittelmotor-Renner mit V6- und V8-Motoren waren, doch man entschied in Maranello, noch einen letzten Testa Rossa zu bauen, den 330 TRI/LM. Seine Karriere begann dieses Fahrzeug eigentlich als TRI 60/61 (Chassisnummer #0780) schon 1961 mit drei zweiten Plätzen in Sebring, auf dem Nürburgring und in Le Mans sowie mit einem Sieg bei den 12 Stunden von Pescara. Diesem Fahrzeug wurde ein 4-Liter-V12 aus dem Tipo 163 Superamerica eingebaut, die Chassisnummer auf #0808 geändert. Aufgerüstet mit sechs Weber-Doppelvergasern (42 DCN) kam dieses Aggregat auf 390 PS, rund 50 mehr als der bisher stärkste Testa Rossa. Dieser Motor baute fast 10 cm länger als die 3-Liter-V12 – also musste das Chassis angepasst werden. Auch erhielt der 330 TRI/LM ein verstärktes 5-Gang-Getriebe aus dem TRI 61. Das «I» steht für «Independente» und weist auf die hintere Einzelradaufhängung hin. Der Aufbau kam von Fantuzzi und war eine eigentümliche Mischung aus der zweigeteilten Hai-Nase, welche auch die Ferrari-Formel-1-Rennwagen hatten, und einem langgestreckten Heck. Besonders beachtenswert sind der Dachspoiler sowie die rund um den Fahrer gezogene Windschutzscheibe.
Man war spät dran mit der Konstruktion des Wagens in Maranello, denn im Jahr vorher hatten viele gestandene Ingenieure wie Tavoni, Chiti und Bizzarini Ferrari verlassen. So konzentrierte man sich voll auf die 24 Stunden von Le Mans. Während der ersten Testtage, am 9. und 10. April 1962, wuchtete Testfahrer Walter Mairesse den 330er in 4″10,8 um die Strecke in der Sarthe. Das bedeutete Bestzeit, obwohl Mairesse im strömenden Regen fahren musste. Für das Rennen knapp zwei Monate später meldete Ferrari vier Fahrzeuge an, den 330 TRI/LM mit Hill/Gendebien, einen 330 GTO/LM mit Michael Parkes/Lorenzo Bandini, einen Dino 268 SP mit Giancarlo Baghetti/Ludovico Scarfiotti und einen Dino 246 SP mit den sehr schnellen mexikanischen Brüdern Rodriguez. Unter den Gegnern befanden sich auch noch drei 4-Liter-Maserati Tipo 151 sowie verschiedene Aston Martin. Doch gegen den 330 TRI/LM war kein Kraut gewachsen. Im Training waren Hill/Gendebien 3,5 s schneller als der zweitklassierte 330 GTO/LM. Das Rennen fuhr das amerikanisch-belgische Duo locker nach Hause. Im Ziel hatten sie fünf Runden Vorsprung. Doch Phil Hill erinnerte sich in einem im Oktober 1982 im amerikanischen Fachblatt «Road & Track» veröffentlichten Artikel daran, dass der 330 TRI/LM gar nicht so einfach zu fahren war, weil die Kupplung dem immensen Drehmoment nicht gewachsen war. Hill/Gendebien fuhren den Ferrari immer einen Gang zu hoch durch die Kurven, und Hill sagte, dass sie überzeugt gewesen seien, dass sie den Wagen nicht ins Ziel bringen würden.
Für die Rennsaison 63 wurde der 330 in die USA verkauft. Dort machte er wieder eine gute Figur, vor allem in den Händen von Pedro Rodriguez. Auch 1963 wurde das Fahrzeug für die 24 Stunden von Le Mans gemeldet, und man rechnete sich in Maranello ein weiteres Mal gute Siegeschancen aus. Kurz nach Mitternacht verabschiedete sich aber ein Kolben, verursachte dabei ein Ölleck – auf dem der an dritter Stelle liegende Ferrari prompt ausrutschte. Dem Fahrer, Roger Penske, passierte nicht viel, der 330 TRI/LM hingegen war Schrott. Nun beginnt der eigenartige Teil der Geschichte dieses Ferrari. Fantuzzi baute #0808 wieder auf, versah ihn aber mit einer sehr speziellen Coupé-Karosserie. Das Fahrzeug wurde wieder in die USA verschifft und dort vom japanischen Geschäftsmann Hisashi Okada gekauft. Der Japaner benutzte den Le-Mans-Sieger in den nächsten acht Jahren als Alltagsauto in den Strassen von New York, und das quasi täglich. Okada verkaufte den Wagen 1973 an Pierre Bardinon. Dieser schickte den Ferrari unverzüglich zu Fantuzzi zurück, damit er dort wieder auf seine 62er-Konfiguration zurückgebaut werden konnte. Am Motor gab es nicht viel zu machen, denn die Maschine hatte die New Yorker Jahre unbeschadet überstanden. Der 330 TRI/LM blieb bis 2002 in der wunderbaren Sammlung «Mas du Clos» von Pierre Bardinon versteckt, dann brachte ihn der Franzose wieder vermehrt auf die Strasse. Im Sommer 2007 wurde der Le-Mans-Sieger auf einer Auktion für über sieben Millionen Euro verkauft.
Wir durften dieses letzte Rötkäppchen vor ein paar Jahren ein paar Meter über das Werksgelände von Ferrari auf der Rennstrecke in Fiorano bewegen. Was uns dabei überrascht hat: Wie leicht der 330 TRI/LM zu fahren ist. Zwar brauchen Kupplung und Getriebe einiges an Kraftaufwand, doch da sind wir schon modernere Fahrzeuge gefahren, die beim Gangwechsel mehr gezickt haben. Sogar der Rückwärtsgang lässt sich problem- und geräuschlos einlegen. Die Lenkung ist zäh, das Rangieren gehört nicht unbedingt zu den Stärken des Italieners, doch der Einschlag ist gut, und schon nach wenigen Minuten wussten wir, dass Mister Okada gar keine so schlechte Wahl getroffen hatte mit seinem Alltagsauto für New York. Zum Fahrverhalten können wir sonst nichts sagen, dafür reichte einfach der Platz nicht aus. Doch auch heute noch faszinierend sind die spontane Gasannahme und die Durchzugskraft des 4-Liter-V12. Ein sanftes Streicheln des Gaspedals genügt, und der Ferrari prescht wie aus einem Katapult geschossen nach vorne. Die Bremsen – nun ja, es sind welche vorhanden; heute bremst jeder voll beladene Kleinlaster besser. Was ebenfalls begeisternd ist: das Grollen des V12. Es ist nicht das übliche, helle, ziemlich metallische Kreischen, das die Ferrari sonst auszeichnet. Die Tonlage ist tief, mächtig, beeindruckend. Und laut, sehr laut ist dieser ultimative Testa Rossa. Die vier Auspuffrohre dienen mehr als Verstärker denn als Dämpfung. Erstaunlich gut sind die Platzverhältnisse, zumindest für den Fahrer. Zwar steht dem Piloten das Lenkrad gross und steil unmittelbar vor dem Gesicht, doch die Beine haben eine angenehme Freiheit. Der Beifahrer hingegen reist in der Holzklasse: Etwa dort, wo sich normalerweise die Knie befinden, wurde eine Spritzwand eingebaut. Aber in Le Mans gab es ja auch keine Beifahrer.
Mehr Ferrari, viel mehr Ferrari haben wir in unserem Archiv. Photos: Wale Pfäffli.
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