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Fahrbericht McLaren 720S

Published in radical-mag.com

Der Chirurg

Anscheinend muss ja immer verglichen werden. Wie denn so ein McLaren 720S ist im Vergleich zu einem Ferrari, Lamborghini, auch Porsche. Wir wagen hier jetzt eine Behauptung: der McLaren ist unvergleichlich, die Engländer haben eine neue Kategorie unter den Sportwagen definiert, nämlich jene der digitalen Hochpräzisionsinstrumente. Wohl noch nie wurde ein Strassen-Fahrzeug derart konsequent darauf getrimmt, auf der Rennstrecke einfach nur schnell zu sein, gnadenlos, präzis. Dies zwar auch mit Hilfe aller elektronischen Feinheiten, welche die Technik heute zulässt, doch die Basis ist derart gut, die Balance derart grossartig, dass die ganze Fuhre auch ohne diese Computer und deren Algorithmen bestens funktioniert. Es ist der McLaren 720S wahrscheinlich das wahnsinnigste Gerät, das man sich für Geld derzeit kaufen kann, er wird die Konkurrenz auf der Rundstrecke wohl in Grund und Boden fahren. Aber, um einen alten Slogan von Alfa Romeo aufzunehmen: Ohne Emotionen ist ein Auto auch nur eine Maschine.

Zum ersten Mal seit der Gründung des neuen Unternehmens darf McLaren ein gestandenes Modell ersetzen. Und man spürt die Freude der Ingenieure, die diesen Moment herbeigesehnt haben: der MP4-12C/650S war noch auf einem weissen Blatt Papier sowie der grünen Wiese entstanden, beim direkten Nachfolger konnten jetzt die Erfahrungen der vergangenen sechs Jahre, das erarbeitete Wissen, die Wünsche der Kunden, die modernste Technologie eingebracht werden. 91 Prozent des 720S sind im Vergleich zum 650S neu, haben die Engländer ausgerechnet, und so wohl alles, was an der bisherigen Superseries bemängelt wurde, konnte ausgemerzt werden. Wir haben uns hier ja schon öfter darüber gewundert und auch gefreut (570GT, 675LT), wie konsequent in Woking gearbeitet wird, wie hoch die Qualität ist, wie schnell es die Engländer geschafft haben, sich auf höchstem Niveau in einem wirklich nicht einfach Geschäft zu etablieren. Es mag McLaren zwar an «Heritage» fehlen (in Sachen Strassen-Fahrzeugen), doch sie pflegen den Mythos schon gut, die Formel 1 und sicher den legendären F1, auch Bruce McLaren (noch diesen Sommer kommt eine Hollywood-Produktion über das Lebens des Neuseeländers in die Kinos), und in Sachen moderner Lifestyle muss man die Engländer auch nichts lehren.

720 PS für 1418 Kilo (dies nach DIN, leerleer sind es nur gerade 1283 Kilo), das ist unbedingt eine Ansage; ein Leistungsgewicht von unter 2 kg/PS darf als grossartig gelten. Wir sprechen hier von 2,9 Sekunden von 0 auf 100 km/h, von 7,8 Sekunden von 0 auf 200, von 21,4 Sekunden vo 0 auf 300, von 10,3 Sekunden für die Viertelmeile (siehe auch: Dodge Demon) und von 341 km/h Höchstgeschwindigkeit. Und trotzdem noch von insgesamt 360 Liter Kofferraum-Volumen. Das Karbon-Monocoque ist nochmals bedeutend steifer geworden (einen Spyder wird es aber genau deshlab vorerst nicht mehr geben) – und doch noch einmal 18 Kilogramm leichter als im Vorgänger. Die proaktive Chassis Control wurde – in Zusammenarbeit mit der Universität von Cambridge – um 12 weitere Sensoren ergänzt, es werden nicht mehr nur die Bewegungen des Fahrzeugs gelesen, sondern auch die Strasse, was noch schnellere Reaktionen des elektronisch geregelten Fahrwerk ermöglicht. Und obwohl es keinerlei sichtbare Luftführungen mehr gibt, konnte die Effizienz der Aerodynamik und der Abtrieb (maximal 180 Kilo) weiter deutlich verbessert werden. Ja, schon auf dem Papier müssen die gestandenen Konkurrenten den englischen Herausforderer mehr als nur fürchten.

Oh ja, es ist schön, feinst, wie sich der 720S auf den (öffentlichen) Strassen verhält. Er ist brav wie ein Golf in der Stadt – allerdings deutlich weniger übersichtlich (obwohl sich McLaren für seine 360-Grad-Rundumsicht lobt). Aber das Ruckeln und Zuckeln im Schiebebetrieb, wie das früher bei groben Sportwagen, gehört der Vergangenheit an (das können die Konkurrenten aber auch, siehe Ferrari 488 oder Porsche 911 GT3). Auch auf schlechten Strassen ist der Komfort vorbildlich, das – und da vor allem die Elektronik – muss man unbedingt loben; es ist wirklich grossartig, was bereits in der «Comfort»-Einstellung möglich ist an Kurvengeschwindigkeiten. Mindestens so sehr gepreisen sein muss die elektro-hydraulische Lenkung, sehr feine Rückmeldung, höchste Präzision, da ist viel passiert im Vergleich zum 650S. Weil man zwar quasi auf dem Boden, aber halt auch hervorragend sitzt, weil der Sound so einigermassen brav ist, wird man den McLaren gern auch über lange Strecken bewegen wollen; wir freuen uns auf jeden Fall schon auf eine ausführliche Ausfahrt über ein paar Bergstrassen. Aber wie geschrieben: das können die italienischen und deutschen Konkurrenten alles auch, weder besser noch schlechter (eigentlich wollten wir ja nicht vergleichen…).

Innen, nun, da sieht ein 911er im Vergleich zum McLaren aus wie aus dem letzten Jahrtausend und auch die Italiener so ein bisschen wie unbearbeitete Holzpflöcke. Ja, die sich drehende Armaturentafel vor den Augen des Fahrers ist ein fröhliches Gimmick, aber schon irgendwie auch smart; das Bediensystem rund um den grossen, hochstehenden Touchscreen ist so modern wie logisch und einfach zu bedienen. Sitze gibt es nach Gusto des Besitzers, so ziemlich alles von knackigen (und engen) Karbon-Schalen bis zu gediegenen Ledersportsesseln, überhaupt ist das Innenleben ganz nach Geschmack zu konfigurieren. Wie beim GT3: ein Lenkrad, das einfach ein Lenkrad ist, am besten in Alcantara. Das Raumgefühl ist sehr anständig, luftig auch nach oben, viel Glas überall. Und dann sind da noch diese Türen, die einen grossen Auftritt garantieren – wobei schon ein bisschen trainieren muss, damit man einigermassen elegant rein und raus kommt aus dem 720S.

Seine wahre Stärke offenbart der McLaren aber auf der Rennstrecke. Die mag «radical» zwar nicht besonders, doch wir wollen gestehen, dass sogar wir richtig viel Spass hatten. Es ist eine Frage des Vertrauens – und wenn man dann einmal gemerkt hat, dass der Engländer alles viel besser kann als der Pilot, wird ebendieser mit dem 720S deutlich schneller sein als er je für möglich gehalten hätte. Da in Vallelunga auf der Gegengeraden fliegt man mit 250 km/h quasi blind auf die nächste Rechts zu, staucht die Kiste massiv zusammen, lenkt ein – und geht viel, viel früher wieder auf den Pinsel als man sich das gewohnt ist. Und es geht, es geht im Sport- und auch im Track-Modus. Und es geht eben nicht nur mit und dank der grossartigen Elektronik, sondern dank der extrem guten Balance des Wagens, dank des wahnsinnigen Grip, welche die extra für den 720S entwickelten Pirelli aufbauen können, dank des guten Gefühls, das der McLaren so ganz allgemein vermittelt. «radical» kam nicht annäherend an die Grenzen des Wagens, aber wir hatten oft den Mund offen vor lauter Bewunderung für die extreme Bremsleistung (100 auf 0 in 29,7 Metern, 200 auf 0 in 117 Metern oder 4,6 Sekunden), für die nicht mehr spürbaren Lastwechsel, auch wenn man zwei Gänge runterschalten muss (der 650S wurde da hinten noch etwas unruhig), für die unglaubliche Souveränität des Fahrzeugs auch in jenseitigen Geschwindigkeitsbereichen. Es gibt als Spielzeugs noch diesen «variable drift meter», mit dem man sich den Driftwinkel einstellen kann (funktioniert), es gibt umfangreichste Telemetrie-Daten, die man sich auf den Computer, das Smartphone spielen kann (funktioniert), das ist alles lustig und nett – und ja, es verstärkt auch das Gefühl, dass es sich beim McLaren um die elaborierteste Form von Playstation handelt, die es bisher ins wirkliche Leben geschafft hat.

Das ist nämlich so ein bisschen das Problem des 720S: er ist zu gut. Er kann alles, er kann alles auch richtig gut, aber irgendwie: es berührt zu wenig. Wir können es allerdings nicht so genau beschreiben, was uns fehlt. Sicher: der Sound. Unser Proband war zwar mit der Sport-Abgasanlage ausgerüstet, doch hardcore ist anders. An der neuen Maschine, jetzt mit vier Liter Hubraum, liegt es nicht, sie ist grossartig, keinerlei Turboloch, fantastisch kurze Ansprechzeiten, der unglaubliche Drehmoment-Hammer (770 Nm bei 5500/min) in jedem Bereich, gekoppelt an dieses so wunderbare 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe. Aber es fehlt das Röcheln eines Porsche, es fehlt das Kreischen eines Ferrari, es wirkt alles zu fein, zu edel, zu cool.

So ein wenig gilt das wahrscheinlich auch für das Design. McLaren hat es in kürzester Zeit geschafft, sehr charakteristische Linien zu schaffen, der 720S ist auch wieder klar als der Marke zugehörig zu erkennen. Aber vielleicht ist das alles ein bisschen zu harmonisch, zu geschliffen, wieder: zu cool. Selbstverständlich ist das britische Understatement gerade im Bereich der Sportwagen auch irgendwie wohltuend, es wollen ja nicht alle diese groben Flügel eines Porsche, es brauchen nicht alle die Aggressivität eines Lambo, es gefällt nicht allen die Eleganz eines Ferrari; uns fehlt es aber so ein bisschen an Charakter, Ausstrahlung, dem «Haben müssen»-Faktor. Das ist selbstverständlich rein subjektiv, Sex-Appeal ist nicht messbar, doch diese «clean Coolness» macht ihn zum erwähnten Hochpräzisionsinstrument. Und der Chirurg ist ja auch so etwas wie der Star unter den Medizinern – wird aber von kaum jemandem geliebt.

Es empfiehlt sich allerdings, mindestens über das Einkommen eines Chirurgen zu verfügen, falls man sich die Anschaffung eines McLaren 720S überlegen sollte. Es sind dem Händler mindestens 267’720 Franken zu entrichten. Damit fängt es aber erst an, McLaren wird wohl keinen 720S ausliefern müssen, der unter 300’000 Franken kostet, denn die Liste der Sonderausstattung ist sehr lang. Ja, das ist viel Geld. Aber der Engländer ist in der Summe seiner Qualitäten jeden Franken wert, die Verarbeitungsqualität liegt auf höchstem Niveau, die verwendeten Materialien sind die Feinsten – und es macht den Eindruck, als ob die McLaren bereits in die Sphäre vorgedrungen sind, in der Gebrauchtwagen bald schon teurer sind als Neuwagen.

Mehr McLaren gibt es bei uns im Archiv – weiterhin unter den Exoten.

Der Beitrag Fahrbericht McLaren 720S erschien zuerst auf radicalmag.