Der W222 und die Aura der S-Klasse
Ihr Stammleser habt in den letzten Wochen stark sein müssen. Was ist nur aus den S-Klassikern der Achtziger Jahre geworden vor lauter S-Klasse 2014, mögen einige von Euch gedacht haben. Keine Bange, unsere S-Klassiker werden regelmäßig genußvoll durch die Sommerluft bewegt, mußten redaktionell aber den Festivitäten rund um die Geburt ihres Ururenkels weichen. Sie sind recht stolz auf ihn, lassen Sie Euch ausrichten, hoffen aber auch sehr darauf, daß er kein verzogenes Balg wird.
Nun ist das Kind seit der Geburt in Hamburg wohlauf. Das überrascht nicht, denn ich selbst war ja bei der wortwörtlichen Niederkunft dabei und habe aufgepaßt. Wir haben ihm in Kanada schon einmal einen Klaps geben und es schreien lassen dürfen, finden daß es kerngesund, wohlgeraten und im Gegensatz zur Mama erstaunlich wenig pausbäckig geworden ist. Und wir haben sogar einige Anflüge von (völlig harmlosen) Kinderkrankheiten entdeckt und werden dazu in einer ausführlichen Rezension gesondert berichten.
Insgesamt haben wir hunderte Gigabyte Bild- und Filmmaterial mitgebracht, von denen ihr die Tage noch einiges zu sehen bekommen werdet.
Jetzt aber können wir sukzessive die Fragen klären, die Euch Klassikfans noch am ehesten interessieren dürften: ist er nun einer von uns? Gar so eine Art Klassiker der Gegenwart, wie Marc und ich es Euch hin und wieder vorsangen? Hier eine kurze Einstimmung aus Toronto:
Ist die Baureihe 222 der W126 der Gegenwart?
Um eine faire Antwort darauf zu finden muß ich wohl etwas ausholen. Keine Angst, Carl Benz und Gottlieb Daimler kommen nur indirekt darin vor. Alles beginnt vor etwa 15 Jahren…
Meine Schwärmerei für den 126er fing nämlich an, als er kaum mehr war als die günstigste Gelegenheit, an eine eindrucksvolle Ausstattung in einem großen Auto zu kommen. Ein Klassiker war er nur für wenige, Liebhaberfahrzeug mit Kirmesfelgen hingegen sehr oft. Das ist wichtig für eine Einordnung, denn heute wird das gerne verklärt.
Als ich den nautikblauen Namensgeber dieser Website schließlich mein eigen nennen konnte, war ich 30 und die Baureihe 126 nur unwesentlich jünger. Wir fühlten uns beide wohl zu unrecht alt. Trotzdem ist beim Menschen wie beim Auto irgendwann der technische Vorsprung aufgebraucht und ein anderer Faktor bestimmt wesentlich über Wert und Ansehen: die Persönlichkeit!
Jede Wette: der 126er wäre trotz oder gerade wegen all seiner Raffinesse kein moderner Klassiker geworden, wenn er nicht auch Zeitzeuge großer Weltgeschichte und Repräsentant gewichtiger Persönlichkeiten gewesen wäre, deren Aura auf ihn abgestrahlt hat.
Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl haben den 126 in Bonn mindestens ebenso stark geprägt wie seine eigentlichen Schöpfer Guntram Huber und Bruno Sacco in Stuttgart und Sindelfingen. Die geniale Konstruktion alleine ist in der öffentlichen Wahrnehmung kaum etwas wert, wenn sie nicht mit echten Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden kann.
Der jeweils neuesten Sonder- oder sonstigen Klasse mit Stern wird ja gerne attestiert, kein echter Mercedes mehr zu sein, so auch schon beim 126. Dieser Mechanismus testiert in Wahrheit eine der wertvollsten Traditionen der Marke: ihre Innovationskraft!
So gesehen ist für manchen auch der 222 kein echter Mercedes mehr – gottseidank! Denn das wird eine S-Klasse immer erst retrospektiv bei denen, die es dann sowieso schon immer gewußt haben wollen. Ganz vorzüglich läßt sich das an unserer Baureihe 126 zeigen, die mit vielem brach, was damals Gesetz schien, und dann über mehr als 10 Jahre auch nur ein beliebter weil luxuriöser Gebrauchtwagen war, aber kein wirklicher Mercedes-Klassiker.
Die S-Klasse war immer schon ein Stilrebell
In der Ahnenfolge der Mercedes-Oberklasse war der Hundertsechsundzwanziger die Sollbruchstelle zur Moderne, in der es nicht länger allein um Repräsentation und Opulenz ging, sondern erstmals auch um Wirtschaftlichkeit und neue Zielgruppen – mit allem damit verbundenen Risiko beim Fahrzeugkonzept und einem schallenden Zeter und Mordio im deutschen Blätterwald.
Wo sich sein unmittelbarer Vorgänger W116 noch mit doppelten Chromstoßstangen einen grinste und mit seiner Ganzmetall-Anmutung auf der sicheren Seite des Zeitgeistes befand, brach der W126 mit verformbaren Kunststoff-Stoßfängern und -beplankungsteilen stilistisch in vermintes Terrain vor – und das mit einem cw-Wert, der selbst bei manchem Zuffenhausener Sportwagen seinesgleichen suchte.
Es wäre eine zugegebenermaßen dreiste Behauptung, daß der 222 stilistisch ein ebenso mutiges Konzept sei wie sein Ururgroßvater. Im Gegenteil: er kopiert gnadenlos aus der S-Klasse- und jüngeren Maybach-Geschichte, ohne dabei rot zu werden (die Farbe gibt es tatsächlich nicht im Konfigurator!). Durch dieses Erbe und natürlich auch eine lange Liste an Innovationen erreicht er den nötigen Grad an Exzellenz, der ihn auf Anhieb an die Spitze seines Marktsegments katapultiert, wo er hingehört. Und trotzdem: Zeter und Mordio bei seinen Kritikern!
Das Neue ist erst einmal verdächtig
Ein beliebtes Angriffsziel sind ja die beiden Hauptdisplays, die das klassische Rundinstrument ersetzen. Nach den Cockpits der Baureihen 220 und 221 ist das zwar nur ein logischer Evolutionsschritt, trotzdem bricht sich darüber teils heftiger Unmut bahn: die “Spielkonsole” sei einer S-Klasse unwürdig und der Käufer eines so teuren Luxusautos würde sich niemals mit einer solchen Optik zufrieden geben.
Ja, auch ich hatte Schlimmeres befürchtet, als ich auf Erlkönigbildern die kastige Plastikeinfassung der beiden Schirme gesehen habe. Inzwischen bin ich beruhigt, denn in natura wirkt das stimmig und hätte kaum anders umgesetzt werden dürfen.
Hört sich das nicht sehr vertraut an? Wie wäre es damit: das Kombi-Instrument der Baureihe 222 ist der Kunststoff-Stoßfänger der Baureihe 126. In beiden Fällen unterschätzen die Kritiker sowohl die Ingenieurleistung des erstellers als auch den technologischen Langzeitanspruch der Kunden.
Zehn Jahre nach der Vorstellung des 126 hat es faktisch keine klassischen Stoßstangen mehr bei Neuwagen jedweder Marke gegeben. Der Stilbruch war zur Selbstverständlichkeit geworden, die S-Klasse noch immer in Produktion und unangefochten erfolgreich. In zehn Jahren ab heute wird es ebenso kaum noch ein starres Ziffernblatt hinter dem Lenkrad geben, außer vielleicht noch bei ganz puristischen Fahrmaschinen und Retromobilen.
Modernes Hexenwerk schafft überhaupt erst den Platz für Traditionelles
Der 222 nutzt die hohe Pixeldichte seiner Hauptdisplays nämlich auch, um mehr Raum für das Wohnliche zu bieten. Im direkten Vergleich zum gut ausgestattenen 126er von vor 25 Jahren beispielsweise ist die Fülle an Bedienelementen im 222 kaum größer geworden, obwohl der Funktionsumfang der Fahrzeugsysteme um Magnituden höher liegt.
Im 222 treffen krasse Gegensätze aufeinander, ohne wechselseitig Kompromisse eingehen zu müssen. Das ist eine seiner vornehmsten Stärken, und das große Verdienst der Ingenieure und Stilisten bei Mercedes-Benz.
Keine Ecken und Kanten? Das gilt heute vor allem für die Insassen
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: die Aura, die über die Bedeutung einer Fahrzeugbaureihe als Klassikanwärter entscheidet. Wodurch ist das Fahrzeug bekannt? Welche Ereignisse oder Erinnerungen verbinden wir damit? Und vor allem: wer ist es gefahren?
Bundespräsidenten fuhren im W100, Adenauer im später nach ihm benannten W186, Schmidt im W116, Kohl im 126 und 140. Und dann? Für welche Persönlichkeit war nochmal der 220 bekannt? Und der 221? Die Geschichte der Staatskarosse hat sich ein wenig in der Bedeutungslosigkeit verlaufen, was nicht zwingend an den Fahrzeugen liegt.
Die Galeonsfiguren aus Wirtschaft und Politik sind heute stromlinien-optimierte Rhetoriker und sagen austauschbare Textbausteine über “Nachhaltigkeit”, “soziale Gerechtigkeit”, “Klimaschutz”, “Gender Mainstreaming” und “ergebnisoffene Diskurse” an “Mitbürgerinnen und Mitbürger” in die Kameras, ohne dabei je “Gefühle verletzt sehen” zu wollen.
Dem W186, dem 116, 126 oder 140 entstiegen indes Persönlichkeiten, die der versammelten Presse gerne einmal brüsk und mit kaum unterdrücktem Dialekt zu verstehen gaben, daß ihnen das Gesicht des Fragenden nicht paßte und man ohnehin gerade wichtigeres zu tun hätte als Interviews zu geben. Und das war dann auch wirklich so gemeint und kam von Herzen!
Es ist diese autoritäre Ehrlichkeit, die durch unzählige Fernsehmomente für Zuschauer wie mich von jenen kantigen Personen auf das Auto im Bildhintergrund übergesprungen sein muß, und die heute einen nicht unwesentlichen Teil der Aura eines 126 und seiner Ahnen für mich ausmachen.
Wenn Vorbilder zu Feindbildern werden
Weil es solche Stereotypen heute nicht mehr gibt und wegen des allgemeinen Konformitätsdrucks ist es nachvollziehbar, daß Autohersteller ihre Produkte heute lieber über ausgesuchte Markenbotschafter oder Filmfiguren positionieren und damit ein präzise ausgearbeitetes Image für sich beanspruchen können. Tony Stark aus Ironman fährt Audi R8, Mr. Big aus Sex and the City fährt S-Klasse. Nun denn…
Ob aber der Große Bellheim, gespielt vom ebenso großen Mario Adorf, heute 222 fahren würde? Lieber nicht, denn in unserer gentrifizierten Nachhaltigkeitswelt gelten Galeonsfiguren (reale wie fiktive) aus der Wirtschaft als grundverdächtig. Status und Erfolg sind zu Unwörtern geworden. Rituelle Sachbeschädigungen an Luxusgütern werden von der Öffentlichkeit mit einer unheimlichen Gleichgültigkeit hingenommen. “Es trifft ja nie die Falschen” wenn in Friedrichshain die S-Klasse brennt.
Ist der “große Mercedes” also wirklich noch der Traum der kleinen Jungs? Oder wird dieser Wunsch aus den Wirtschaftswunderjahren nicht längst schon im Vorschulalter von dem zur Popkultur gewordenen Misstrauen gegenüber allem Obrigen zum Tabu erklärt?
Vision erfüllt – aber wird das reichen?
Chefingenieur Storp und Designchef Wagener haben geliefert! Das Auto ist tatsächlich eine Wucht geworden – in nahezu allen Aspekten. Mangel an Persönlichkeit kann man ihm schlecht vorwerfen. Der 222 erfüllt und übererfüllt die gegensätzlichsten Erwartungen an eine S-Klasse. Er deklassiert die Konkurrenz. Dies schafft er unter deutlich schwierigeren Rahmenbedingungen wohl noch besser und raffinierter als seine Vorgänger. Kurzum: die neue S-Klasse dürfte im Augenblick tatsächlich das beste Auto der Welt sein. Er ist der 126er der Gegenwart, und trotzdem wissen wir nicht, ob er auch dessen Aura erben wird.
Was wir seit unserer Testfahrt in Toronto aber wissen ist, daß er die Menschen magisch anzieht und teils euphorische Reaktionen auslöst. Nur weniges davon seht ihr in diesem Video – oftmals waren wir mit der Kamera nicht schnell genug, um es spontan einzufangen. Manches ist dem Anlaß unangemessen und vielleicht nicht ganz jugendfrei ;-) Dennoch wünschen wir viel Spaß mit den Reaktionen ganz normaler und etwas weniger normaler Menschen auf die neue S-Klasse W222!
Übrigens: am morgigen Samstag, 20. Juli 2013, ist Händlerpremiere der neuen S-Klasse! Schaut sie Euch doch mal persönlich an – oder vielleicht auch lieber nicht. Danach ist vieles nicht mehr wie es war, das dürft Ihr uns glauben! ;-)
Original: 5komma6