Kn(a)utschzone: Wurzelbehandlung
Während eines Zahnarzttermines in den letzten Wochen wurde ich gefragt, ob ich eine Betäubung wünsche.
Wünschen Sie eine örtliche Betäubung? | Foto: Zahnarztpraxis Löhlein
Als Mann von Welt habe ich selbstbewusst abgelehnt, wer eine alte S-Klasse fährt ist einiges gewohnt und benötigt das Geld anderweitig. Da die eher liegende Körperhaltung dafür sorgt das der Großteil des Blutes dem Gehirn statt Bauch zur Verfügung steht, habe ich während der Behandlung zu meiner eigenen Ablenkung sowie als Beitrag zur menschlichen Kultur ein Sprichwort erfunden. Dessen Symbiose aus Sprachkultur, Melodik und tiefer innerer Wahrheit wird wohl erst von nachfolgenden Generationen erkannt werden : "Wenn Du wissen willst was das Kamel gefressen hat, musst Du nicht in die Küche gehen sondern in seinen Hintern schauen."
Will sagen: Was hinten rauskommt ist manchmal beeindruckend, wie es zum Ergebnis kam, erschließt sich nicht immer sofort. Gerade in der heutigen Zeit ist es mit Hilfe quasi unbegrenzt zur Verfügung stehender Softwareressourcen ein Leichtes, ein Ergebnis zu präsentieren, dessen Zustandekommen kaum nachvollziehbar ist. Frumos auch, wenn Verfasser Ihre Leistung auf elektronischen Gesichtsbüchern präsentieren und mit "Sent from my white iGedöns" statt Ihrem Namen unterschreiben. Es ist mir herzlich egal mit welchem batteriebetrieben Damenspielzeug der Beitrag verfasst wurde und ich kann mich nicht erinnern das wir vor Jahren mit "geschrieben mit geklautem IKEA Bleistift" unterzeichnet hätten.
Als progressiver Zeitgenosse beuge ich mich jedoch solchen Verbalfrakturen (danke für diesen Begriff, Kollege Schlörb) und klicke auch weiterhin gerne auf den "mach's-mir-gleich-nochmal" Button um die Frage irgend eines Customer Experience Improvement Managers zu beantworten, ob das Herunterladen der App ein schönes Erlebnis für mich gewesen sei. Muss aber an mir liegen, ich habe den Unterschied zwischen Ewigkeit, unbegrenzter Fortdauer und Unsterblichkeit auch erst spät verstanden und erinnere an Woody Allen: "Die Ewigkeit kann sich ziehen, vor allem zum Ende hin."
Zur Kompensation meiner ansonsten eher delegativen Einstellung zur Kfz-Technik ("Kann bitte mal jemand…") habe ich selbst Hand angelegt und versuche, mit diesem Beitrag eine nachvollziehbare Anleitung zu liefern, die demonstrieren möchte, wie aus vernachlässigtem Wurzelholzschmuck der Fahrkabine ein akzeptables Zierelement für das fahrbare Wohnzimmer zurückerhalten werden kann. Schließlich begibt man sich durch das Besteigen eines alten Mercedes in einen den Zeitstrahl revidierenden osmotischen Prozess, hinein in eine Zeit als Autos noch Zigarrenanzünder (sic!) und riesige Aschenbecher haben durften und ein Schminkspiegel fahrerseitig eine Provokation darstellte.
Wir beginnen, in dem wir uns einer Zierleiste einer vorderen Türe widmen, die uns nach Demontage der Türverkleidung und Lösen einiger Schrauben in die Hände fällt. Hier entdecken wir unmittelbar eine Differenz zu modernen Fahrzeugen: Ein über Jahrzehnte gewachsenes Stück Edelholz, in hauchdünne Furnierstreifen geschnitten, aufgebracht auf Leichtmetall und in seiner Gesamtheit eingeschraubt in eine exakt passende Vertiefung der Türverkleidung. Hier ist noch ein Baum stolz für die große Sache gestorben, die Holzmaserung jedes Fahrzeugs ist einmalig und, da von Hand ausgewählt, innerhalb des Fahrzeuges aufeinander abgestimmt. Pompös, Dekadent, Übertrieben, Unnötig… einfach Klasse.
Hier vier Aufnahmen des Ausgangszustandes meines Demonstrationsobjektes. Die Klarlackoberfläche ist matt und es sind große und kleine, jedoch keine tiefen Kratzer zu sehen. Auch ist der Klarlack weder gerissen noch durch Feuchtigkeit unterwandert. Ein Zustand der sich im Machs-Dir-Selbst-Verfahren ohne weiteres beseitigen lassen sollte.
Um einen Vorher-Nachher-Effekt demonstrieren zu können, habe ich die Leiste in der Mitte mit einem Klebestreifen geteilt:
Zunächst entferne ich mit einem handelsüblichen Reiniger die groben Verschmutzungen, einfaches Spüli funktioniert genauso gut.
Wenn man die Leiste in die Sonne hält, erkennt man nun je nach Betrachtungswinkel die Oberflächendefekte der Klarlackschicht.
Zum groben Glätten der Lackoberfläche benutze ich im nächsten Schritte Reinigungsknete, die ich auf einem Film aus Detailer gleiten lassen, eine Wasser/Spüli 1:1 Mischung tut aber auch, ich war nur zu faul diese anzusetzen. Hinweis: die Knete auf keinen Fall trocken benutzen, dies führt zu zusätzlichen Kratzern.
Das Ergebnis ist zunächst ernüchternd:
Nach dem Nachwischen mit einem feuchten Mikrofasertuch sieht das ganze mit etwas Abstand recht nett aus...
In die Sonne gehalten zeigen sich aber weiterhin Kratzer. Das war auch nicht anders zu erwarten, so dass ich im nächsten Schritt mit Politur, von Hand mit einem Schaumpad poliert vorgegangen bin. Ich benutze gerne Politur in der Körnung 2500 (erster Durchgang) und anschließend Körnung 4000 (zweiter Durchgang) und poliere in kreisenden Bewegungen und mit viel Druck.
Das Ergebnis hat sich weiter verbessert, eine Verarbeitung mit der Hand ist zumindest bei dieser Leiste jedoch nicht ausreichend, es sind noch Kratzer vorhanden.
Next stage: Poliermaschine. Ich benutze eine Exzentermaschine sowie gelbe (mittelhart) und blaue (weiche) Polierpads von Rot-Weiss. Die gelben Pads werden mit der 2500er Politur verwendet und wirken abrasiv, nehmen also etwas von der Lackoberfläche ab. Anschließend erfolgt die Hochglanzpolitur mit einem weichen blauen Pad und 4000er Politur.
Die Poliermaschine sehr langsam (ca. 1cm pro Sekunde) fahren, ordentlich Druck ausüben und darauf achten das der Polierteller nicht stehenbleibt. Das Ergebnis ist eine hochglänzende, kratzerfrei Oberfläche. So etwas kann man natürlich nicht allzu oft betreiben, dann ist schlichtweg "der Lack ab".
Ich konserviere den erreichten Zustand gerne durch Anwendung eines Carnauba-Wachses mit vorheriger Aufbringung eines Pre-Cleaner zur besseren Haftungsvermittlung. Aus praktischen Erwägungen wäre es wahrscheinlich besser, eine Polymerversiegelung zu verwenden, da diese eine harte, schützende Schicht erzeugt. Allerdings mag ich persönlich den glasartigen Glanz dieser Produkte nicht und verwende gerade bei dunklen Oberflächen lieber ein Wachs, das meiner Meinung nach einen schönen, weichen und tiefen Glanz erzeugt. Das Wachs trage ich mit der Hand auf, da es durch die Körperwärme schmilzt und besser die Oberflächenporen auffüllt. Anschließend anziehen lassen und mit einem weichen, langfaserigen Microfasertuch auspolieren.
Ergebnisbilder:
Zum Vergleich hier nochmals der Ausgangszustand.
Damit die hübsche Leiste auch in angemessener Umgebung wirken kann, muss die Türverkleidung noch bearbeitet werden. Zunächst mal den gröbsten Schmutz entfernen:
Und anschließend mit Kunststoffpflege behandeln. Diese sorgt dafür, dass der Kunststoff wieder elastisch wird, enthält einen UV Schutz, wirkt antistatisch und damit staubabweisend und das Ergebnis ist immer wieder erstaunlich. Ich mag auch, dass sich durch einfaches Nachwischen mit einem Mikrofasertuch der Matt-Grad so einstellen lässt wie es der persönliche Geschmack erfordert.
Ich bin mit dem Ergebnis recht zufrieden. Ist auf jeden Fall attraktiver als Schlecker-Aktien oder eine chinesische Wasserfolter.
Original: Fünfkommasechs.de | Aktuelles