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Champagner zum Frühstück

Published in fünfkommasechs.de

Das schönste daran, einen an der Klatsche zu haben ist, daß man sich in langweiligen Situationen ganz seinem Wahn hingeben kann und Spaß dabei hat. So war's auch neulich morgen. Dank Lokführerstreik wurde der Stau vor den Toren Frankfurts länger als sonst, die Fahrzeugvielfalt breiter und die Laune bei den notorischen Poplern unter den Pendlern immer finsterer, je länger es nur stockend voran ging und sich längst schon nichts mehr neues aus den Tiefen der Nasenschleimhäute zutage fördern ließ. Baaah…

Wohl nur wenige Menschen ohne eigenes Auto harrten bei frühlingshaften minus sieben Grad tatsächlich am Bahnsteig aus, um vergeblich auf die S-Bahn zu warten. Die meisten schienen wohl doch noch irgendwo ein Auto oder einen entsprechenden Autoersatz aufgetrieben zu haben oder bildeten Fahrgemeinschaften.

Und dann standen wir alle zusammen auf der B8 kurz vor Frankfurt-Fechenheim und nichts ging mehr. Bei den meisten wird sich ein Mischgefühl aus Langeweile und Panik eingestellt haben. Nicht so bei mir. Denn wie schon bei den wunderbaren Reisespielen, die man als kleiner Dreikäsehoch vom Kindersitz aus machen konnte, während einen die Eltern über den Brenner in den hochverdienten Adria-Urlaub chauffierten, so gibt es auch für ein großes Kind im stockenden Berufsverkehr zuviel zu sehen und zu entdecken, als daß wirkliche Tristesse aufkäme.

Während ich als Kurzer noch mit der Zählung von Autos nach Farbe zufriedenzustellen war, hat sich dies in letzter Zeit ein wenig zu einer Art automobilistischer Sozialanalytik gesteigert: wer fährt welches Auto – und vor allem warum? Ein wirklich großartiger Zeitvertreib, zumal man mit einiger Routine sein Stauumfeld bis ins intimste zu kennen glaubt und beinahe traurig ist, wenn es wieder voran geht und sich diese schon liebgewonnene Familie der Staunachbarn wieder auflöst.

So stelle ich mir vor, wie der Familienvater im Windelbomber hinter mir den Verkaufsraum des Toyota-Händlers in Nidderau-Heldenbergen betritt und schon verloren hat.
"Möchten Sie sich gerne näher über den Yaris Verso informieren? Ein tolles silber, nicht wahr? Hat nicht jeder!! Und so praktisch mit den fünf Türen. Als 75PS Diesel ist er sparsam und doch sportlich motorisiert"
Bevor der Arglose ein "Naja" erwidern kann, schaltet sich Ingeborg ein: "Toller kleine Flitzer! Das würde uns eigentlich reichen, oder was meinst Du, Jürgen? Denk an die Kinder!"
Und jetzt hockt er in diesem Hobel mit Hilfsmotor und fragt sich, wie hoch das Kindergeld eigentlich sein müßte um wettzumachen, was sich fast wie eine Kastration anfühlt.

Und so sind wieder zwei oder drei Minuten um, in denen sich vor meinem geistigen Auge eine halbe Lebensgeschichte abgespielt hat. Auf der rechten Spur neben uns geht's inzwischen weiter. Aus der endlosen Reihe ähnlich praktischer Alltagshobel wie dem meines Hintermanns gleitet ein Fahrzeug im Schrittempo an uns vorbei, das sich trotz seiner oberflächlich noch viel tristeren Alltäglichkeit von allen anderen so sehr unterscheidet wie ein Fabergé- von einem Freilandei.

Blitzschnell schaltet mein Stauprogramm von Lindenstraße auf Guldenburgs um. "Moment mal…" werdet Ihr jetzt denken, "…das ist ein alter Taxibenz, na und?" Nicht wirklich, denn so einen sieht man tatsächlich nicht mehr allzu oft.

Für den Altmercedes-Aficionado ist so ein Exemplar wie Champagner zum Frühstück! Genauer gesagt 473 champagner-metallic außen mit 074 Stoff beige innen. Ein 300er der Baureihe 124, die nach der zweiten Modellpflege 1993 zur ersten offiziellen "E-Klasse" wurde. Dieser immer noch modern wirkende Mittelklassewagen, aufgrund seiner hohen Fertigungsqualität, Ergonomie und mangels zeitgenössischer Konkurrenz eigentlich eher der Oberklasse zugehörig, befindet sich in offenbar unangetastetem Originalzustand, gleichwohl aber im normalen Alltagseinsatz. Dazu mit DIN-Kennzeichen, und gerade das gibt Anlaß, über eine möglicherweise interessante Historie dieses Wagens nachzudenken, denn gebrauchtkaufen und wegstellen kann ja jeder!

Das Auto selbst dürfte zwischen 1985 und 1989 estmals zugelassen worden sein, denn mit seinen nackigen Türflanken handelt es sich um ein Modell der ersten Serie noch vor jeglicher Modellpflege. Der Fahrer – und das ist das Interessante – schien mir gerade einmal um die 40 Jahre alt zu sein. Es liegt nahe, daß es sich bei der Zahl "70" im Kennzeichen auch um sein Geburtsjahr handelt. Die beiden Buchstaben davor sind mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Initialien. Wir dürfen annehmen, daß sich der Wagen also seit der Zeit vor der flächendeckenden Einführung der EU-Kennzeichen in Besitz und Eigentum seines jetzigen Fahrers befindet, also mindestens seit zehn Jahren.

Hmm, damals war der Kerl dreißig! Kauft man sich mit 30 im Jahr 2000 einen 124er als Alltagswagen? Ich gehe von meiner eigenen Lebensgeschichte aus und sage "nein". Zwar liegt es nahe, daß man sich als Liebhaber den Wunsch vom großen Sechszylinder-Daimler erfüllt (bei mir war es der Achtzylinder), dann aber doch eher als Liebhaber- bzw. Sommerfahrzeug. Der hier hat aber Stahlfelgen mit Radkappen drauf, und Winterreifen. Normalerwesie dürfte der 300er als Spitzenmodell seiner Baureihe (der 500er-Porsche auf 124er-Basis kam erst 1990) auf schicken 15-Loch-Leichtmetallfelgen von Fuchs dahingleiten, ähnlich wie die Fahrzeuge der S-Klasse W126. Ein Liebhaberfahrzeug braucht indes keine Winterausrüstung.

Ich weiß, was Herr "Dreikommanull" Christiansen nun entgegnen wird: auch er hat seinen Wagen lange Jahre zu jeder Jahreszeit und im Alltag bewegt. Aber genau das ist der springende Punkt: wenn man so lange ein so fulminant gutes und zunehmend seltenes Auto fährt, kommt zwangsläufig das schlechte Gewissen. Für den Alltag holt man sich dann doch irgendwann ein neueres und/oder wahlweise günstigeres Auto. Als reiner Verbrauchswagen wiederum ist dieser 300er aus den Achtzigern anno 2011 in viel zu gutem Zustand.

Was immer also der Beweggrund im wahrsten Wortsinne ist: dieser Herr hat ein ganz besonderes, wenn auch rein pragmatisches Verhältnis zu seinem Auto. Seit 1988 hat der Mann seinen Führerschein, aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht das Geld gehabt, sich den 300er schon so frühzeitig selbst geleistet zu haben, auch nicht als jungen Gebrauchten. Wenn er nämlich so betucht wäre, hätte er längst schon drei weitere Fahrzeuggenerationen verschlissen. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß er den Wagen irgendwann vom Opa geerbt hat. Er ist ihm also gleichermaßen zugefallen und wurde wegen seiner bieder-beigen Erscheinung zunächst nur etwas naserümpfend angenommen, dann aber zunehmend als gut motorisiertes, universell einsetzbares, sehr zuverlässiges und zweckmäßiges, trotzdem enorm komfortables Auto liebgewonnen. Nicht mehr und nicht weniger, denn bei "mehr" würde er ihn nicht auf Stahlfelgen durch den Winter fahren, bei "weniger" nicht in so unverbasteltem und guten Zustand.

Schön, daß wir das also geklärt hätten! Der Stau hat sich derweil aufgelöst und ich freue mich schon auf den nächsten…

Original: Fünfkommasechs.de | Aktuelles

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