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Fahrbericht Lotus Elise Mk1

Published in radical-mag.com

Eier

Kondome. Oder Zigaretten. Oder das Portemonnaie. Das Ragusa. Etwas, was man halt in gewissen Situationen dringend braucht. Es ist dann sehr ungünstig, wenn eben dies aus der Jackentasche rutscht, wenn man die Elise fährt. Denn es wird unter den Sitz flutschen, irgendwie, physikalisch und auch sonst absolut unerklärlich, und wenn es mal unter dem Sitz ist, dann ist es quasi vergraben, «seven feet under». Dann kniet man neben dem Lotus, Sitz vor, Sitz zurück, Hand eingeklemmt, Schmerzen, aber an das Ding ran kommt man nicht. Sieht nicht nur verzweifelt aus, ist es auch, je nach Situation.

Als die Elise 1996 auf den Markt kam (erstmals präsentiert worden war sie am 12. September 1995 auf der IAA in Frankfurt), war sie: ein Wunder. Der gleich alte Porsche Boxster (986) hatte zwar das gleiche Konzept, also: zwei Sitze, Mittelmotor, geringe Abmessungen, doch er war mehr als eine halbe Tonne schwerer als der Lotus (1250 vs 720 Kilogramm). Die Ingenieure in Weissach sind ja jetzt auch nicht als Nasenbohrer bekannt, aber sie hatten halt andere Vordenker, nicht diesen Colin Chapman, der einmal gesagt haben soll: «Simplify, then add lightness.» Ihm zugeschrieben wird auch folgender Satz: «Adding power makes you faster on the straights; subtracting weight makes you faster everywhere.» Chapman war 1996 zwar schon seit 14 Jahren unter der Erde (oder auch nicht, da gibt es ja schöne Geschichten), doch er wäre stolz gewesen auf die von Richard Rackham (Chefingenieur) und Julian Thomson (Chefdesigner) erschaffene Elise.

Es waren schwierige Jahre für Lotus, damals, nach dem Tod von Chapman. Weil das Unternehmen in den Skandal um DeLorean verwickelt war, wurde den Engländern eine Strafe von 84 Millionen Pfund aufgebrummt, die ihnen das Genick brach. Es übernahm David Wickins, der die Marke tatsächlich retten konnte, aber bald einsah, dass er nicht genügend Mittel für die weitere Entwicklung aufbringen würde. 1986 wurde Lotus, über Umwege, an General Motors verkauft (Lotus Omega!), 1993 an die A.C.B.N. Holdings S.A. in Luxembourg verschachert, hinter der der auch nicht über jeden Zweifel erhabene Romano Artioli stand, der der Welt 1991 den heute noch völlig unterschätzten Bugatti EB110 beschert hatte. Der grösste Teil der Entwicklungsarbeit fand im heute leer stehenden Bugatti-Werk im italienischen Campogalliano statt, im Hauptgebäude, in dem sich Artioli einen riesigen Präsentationsraum hatte einrichten lassen. Dass er das neue Fahrzeug nach seiner Nichte Elisa benannte, zeigt sicher auch auf, wie wichtig ihm das Projekt 111 war. Die traurige Note dabei: Im gleichen Monat, als die Elise in Frankfurt präsentiert wurde, ging Artioli mit Bugatti bankrott. Das Spiel war vorbei, bevor es richtig angefangen hatte. Dass sich der Lotus dann weit über den Erwartungen verkaufte und wohl genug Geld in die Kasse spülte, dass auch Bugatti hätte gerettet werden können, bleibt eine Fussnote der Geschichte.

Das Dach ist eine Katastrophe. Auch langjährige Elise-Besitzer tun alles, um das Ding nicht demontieren zu müssen (der Aufbau ist tatsächlich einfacher), sprich: man lässt es am besten einfach weg. Und fährt dann, sollte es zu regnen beginnen, so schnell, dass kein Wasser eindringt. Oder wird halt nass. Hauptsache, man kann die Finger vom Dach lassen. Andererseits ist es erstaunlich, dass die Ingenieure im Kofferraum (in den ganz sicher kein Koffer passt) einen Platz fanden, in dem sich die fast auto-breiten Querstreben verstauen lassen: nach rechts einfädeln in ein dunkles Loch, dann bleibt links genug Platz. Und ja, das Falten des Stoffverdecks ist eine Kunst für sich; die Japaner nennen sie Origami.

Natürlich liesse sich die Mängelliste noch ziemlich beliebig erweitern. Die Sitze sind nicht unbedingt eng, aber sehr, sehr hart (wobei: jene im 111S, den wir hier zeigen, sind ja schon quasi die Komfort-Ausführungen). Die Instrumente (zugeliefert vom Rennsport-Spezialisten Stack) sind etwa so gut ablesbar wie «Krieg und Frieden» bei Stromausfall in einer Dezember-Nacht, die (Bedienung der) Lüftung ist etwa so gut wie in einem alten Land Rover Defender, die Bedienelemente für Licht und so haben den Charme eines schlecht gealterten Peugeot 205 (von dem sie auch stammen). Und wenn uns jemand zeigen kann, wie die Dame so einigermassen ladylike in die Elise rein- und rauskommt, dann wollen wir als Beweis ein Video.

Das ganz grosse Geheimnis der Elise liegt im von Richard Rackman konstruierten Unterbau, einer Art Monocoque, das aus einer speziellen Aluminiumlegierung bestand. Das Ding ist nicht nur leicht (65 Kilo!), sondern auch sehr stabil, weil die einzelnen Profile und Bleche nicht geschweisst wurden, sondern mit Nieten und Klebstoff zusammengefügt wurden. Darüber wurde eine Karosse aus glasfaserverstärktem Kunststoff gestülpt. Die erste Serie der Elise ist nur 3,73 Meter lang, 1,72 Meter breit und 1,20 Meter hoch; der Radstand beträgt 2,3 Meter, der Schwerpunkt des Wagens liegt auf 47 Zentimetern Höhe. Das Gewicht hatten wir schon einmal erwähnt, manchen es aber gerne noch einmal: bei der Vorstellung des Wagens wurde es mit 723 Kilo angegeben. Und wenn wir schon bei den Zahlen sind: Zwischen 1996 und 2001 wurden von der Elise S1 genau 8741 Exemplare gebaut.

Als Antrieb diente der nicht überall geschätzte K-Motor der MG Rover Group, der aus 1,8 Liter Hubraum 120 PS schöpfte. Und trotz dieser doch eher bescheidenen Leistungsausbeute als nicht wirklich zuverlässig galt. Aber er trug die Elise in 5,8 Sekunden von 0 auf 60 Meilen; das konnte der Porsche Boxster mit seinen 204 PS damals definitiv nicht besser, ganz im Gegenteil, er verlor mehr als eine Sekunde auf den Lotus. Und der Porsche verlor immer mehr, je mehr der Lotus zulegte, zuerst auf 135, dann auf 145 (wie in unserem Modell – erstmals mit VVC, Variable Valve Control), dann noch auf 160, schliesslich sogar auf 190 PS. Das heftigste Teil war der 340R, der mit dem «Track Pack» auf 195 PS kam – und nur noch 571 Kilo wog. Zu den Zahlen sei noch folgende Anekdote erzählt: Die Automobil Revue kam einst mit irgendeiner Elise beim Paradesprint von 0 auf 100 km/h bei weitem nicht an die Vorgaben des Werks heran. Auf eine Nachfrage in Hethel, wie denn diese fabelhaften Werte ermittelt würden, kam aus England die Antwort: Wir würfeln. Mehr als 6,6 Sekunden kann ein Lotus also gar nicht benötigen von 0 auf 100.

So eine Elise hat ja nur eine einzige Bestimmung: Fahren. Also fahren wir. Das heisst, zuerst muss noch das Alarmsystem aus dem Defender überlistet werden. Die Kupplung verlangt nach Kraft, das Getriebe verlangt trotz extrem kurzen Wegen nach Kraft, auch die Lenkung verlangt nach Kraft. Aber das ist bestens so, denn so bleibt der Fahrer wach, widmet dem Wagen die volle Aufmerksamkeit – und die ist auch nötig. Zwar sind die Reifen alles andere als breit, trotzdem läuft die Engländerin jeder Rille nach. Zwar ist die Kraft der Maschine und auch ihr Drehmoment jetzt nicht wild (ca. 170 Nm), doch weil die Elise halt so leicht ist und ihr Schwerpunkt so tief und der Motor direkt hinter dem Fahrer, hat sie in jedem Kreisel die Tendenz, ihren hübschen Hintern in den Vordergrund zu drängen. Das ist per se kein Problem – wenn man dann nicht abrupt vom Gas oder gar auf die Bremse steigt. Je sauberer die Linie, desto schneller ist der Lotus – und wenn er hinten kommt, dann braucht er einfach mehr Power, dann lässt er sich in erstaunlichen Winkel quer bewegen. Doch dafür braucht es eine Menge Erfahrung und/oder «cojones».

Die K-Maschine ist jetzt kein Ausbund an Drehfreude (auch wenn sie mit VVC bis 7200/min dreht) und der Sound ist eher in Richtung kümmerlich. Aber das ist so etwas von egal, man sitzt ganz nah am Boden und sowieso voll im Wind, man hört das gar nicht, sondern konzentriert sich viel lieber auf die nächste Kurve, die gefressen werden will, die wunderbar kurze Schaltung, die absolut unverfälschte Fahrfreude, die in keiner Sekunde getrübt wird durch elektronische Helferlein. Die Übersicht über den Zwerg ist grossartig, man dann den Konkurrenten auf der Gasse so nah auffahren wie mit einem Motorrad, man vernascht sie noch auf der Bremse oder innenrum in der Kurve; geradeaus ist dann halt nicht so wild, aber geradeaus kann ja jeder schnell.

Schnell kommt jetzt auch das Ende der Elise, mittlerweile in der dritten Serie angekommen, die dann per Ende 2021 auch die letzte sein wird. Das ist eine Tragödie, denn ein derart auf das reine Fahrvergnügen reduziertes Automobil wird es nie mehr geben. Immerhin: gebraucht kosten die Lotus nicht die Welt.

Mehr interessante Fahrzeuge finden sich in unserem Archiv. Diese Elise, die wir hier zeigen, wurde uns zur Verfügung gestellt von www.rentaclassic.swiss; dort gibt es noch mehr interessante Klassiker zu mieten.

Der Beitrag Fahrbericht Lotus Elise Mk1 erschien zuerst auf radicalmag.