Fahrbericht Volvo P1800 ES
Die Zeichen der Zeit
Heute ist der Volvo P1800 ES eine Stil-Ikone. Wird allgemein als «most sexy Volvo ever» betrachtet – und zu teilweise unverschämten Preisen gehandelt (ja, da wurde in Dollar auch schon sechsstellig bezahlt…). Es sind dies die Zeichen der Zeit, über Geschmack lässt sich zwar nicht streiten, aber er ist immerhin einem dauernden Wandel unterworfen (zum Glück), und manch ein Wagen, der während seiner Produktionsjahre kaum ein Rad auf den Boden brachte, ist heute ein begehrtes Design-Objekt. Das gilt unbedingt auch für den Volvo P1800 ES, besser bekannt als «Schneewittchensarg», der nur gerade von 1971 bis 1973 gebaut wurde, nur in den USA auf einigermassen anständige Verkaufszahlen kam – und damals allgemein schon als veraltet galt, als er auf den Markt kam. Für viele ist der Schwede heute der Inbegriff des «shooting brake», doch er war weder der erste zweitürige Kombi noch besonders eine besonders kreative Interpretation des Themas – der Ruhm entstand erst über die Jahre, Anerkennung fand der Volvo eigentlich erst nach der Jahrtausendwende.
Die Geschichte des 1961 vorgestellten Volvo P1800 (und seines Nachfolgers P1800 S) haben wir schon ausführlich erzählt, hier. Mitte der 60er Jahre war Volvo längst klar, dass etwas passieren musste mit dem Coupé, die Verkaufszahlen entsprachen nicht den Vorstellungen der Chefetage rund um den umtriebigen Gunnar Engeltau, es liess sich eigentlich kein Geld verdienen mit diesem Fahrzeug – obwohl es dem Image der Marke gut tat, mit untermotorisierten Limousinen und Kombis liessen sich ja damals schon nicht die ganz grossen Emotionen wecken. Wie die Geschichte dann ganz genau ablief, das lässt sich wohl nicht mehr klären, aber wahrscheinlich war es so, dass die hauseigene Design-Abteilung unter Leitung von Jan Wilsgaard einige Entwürfe für einen Nachfolger oder auch eine Erweiterung des Modell-Programms ausgearbeitet hatte. Wie und wann genau Piero Frua mit ins Spiel kam, das ist ungewiss, doch Frua war ja schon beim Entwurf des P1800 involviert gewesen – und verfügte anscheinend weiterhin über beste Kontakte nach Schweden. Was nicht weiter wundert, denn Pelle Petterson, dem das Design des P1800 zugeschrieben werden darf, war bei Frua in die Lehre gegangen; Pelle wiederum war der Sohn der Volvo-Legende Helmer Petterson, der den PV444 verantwortet hatte.
Dass der Aston Martin DB5 Shooting Brake, den sich David Brown 1965 bei Radford bestellte, einen gewissen Einfluss auf die Kreativität der Schweden gehabt hat, das ist durchaus möglich: man geht in Schweden auch gerne auf die Jagd, und Brown liess sich den Aston ausdrücklich deshalb umbauen, damit er das erlebte Wild auch standesgemäss transportieren konnte. Auch der Reliant Scimitar GTE, der 1968 auf den Markt kam, lag sicher im Blickfeld der Volvo-Designabteilung, über den P1800 hatte man ja eh enge Beziehungen nach England. Es entstanden schliesslich zwei Entwürfe, die weiter verfolgt werden sollten, der «Jaktvagn» (siehe DB5 Shooting Brake) und der «Beach Car»; letzterer wurde bei Coggiola als Prototyp umgesetzt, der «Jagdwagen» bei Frua (und wurde dann berühmt als «Rocket»). Es war aber bald klar, dass der goldene «Beach Car» das Ding war, das Engeltau haben wollte. Wahrscheinlich auch deshalb, weil der Anbau eines Kombihecks mit der rahmenlosen Glastür hinten auch nicht allzu grossen konstruktiven Aufwand bedeutete. Zur Einführung des P1800 ES (das E steht – wahrscheinlich – für Estate) erhielt auch das Coupé einen neuen Kühlergrill sowie Ledersitze mit integrierten Kopfstützen und serienmässigen Roll-Gurten für alle Passagiere. Ein Punkt übrigens, der ziemlich nervt in diesem Fahrzeug, das im deutschen Sprachraum bald schon den Übernamen «Schneewittchensarg» erhielt: Wer den Gurt nicht einklinkt, muss mit einem fiesen Warnton leben wollen.
Wenn man nach den technischen Feinheiten des Antriebs des «sportlichen» Volvo sucht, dann dürfte da zuerst einmal sanfte Enttäuschung herrschen. Der B20-Vierzylinder mit seinen 1986 cm3 Hubraum (drum hiess er ja auch 1800…) ist ein rauher, biederer Geselle, Grauguss, untenliegende Nockenwelle, zwei über Stössel und Kipphebel klappernde Ventile pro Zylinder; die neu eingeführte Benzineinspritzung entlockte dem Reihen-Vierer optimistische 125 PS bei 6000/min. Optimistisch deshalb, weil ausdrehen mag man diese Maschine nicht, sie dreht ab 4000/min nur noch verkrampft hoch, man ist dann auch froh, dass das manuelle 4-Gang-Getriebe serienmässig über einen Laycock-de-Normanville-Overdrive verfügt. «auto, motor und sport» mass damals für den Sprint von 0 auf 100 eine Zeit von 10,1 Sekunden, als Höchstgeschwindigkeit wurden 181,8 km/h erreicht. Viel schneller wollte man auch nicht, den hinten gab es eine sehr klassische Starrachse, vorne immerhin eine Einzelradaufhängung mit Dreieck-Querlenkern. Die massive Bauweise des Schweden hat den Vorteil, dass nicht viel kaputtgehen kann; die Motoren stecken auch 500’000 Kilometer locker weg.
Und doch fährt er sich ganz nett, heute. Wilde Schlachten auf der Landstrasse will man sich (auch) in diesem Volvo nicht liefern, doch er rollt schön, gleitet komfortabel, hat auch genug Durchzugskraft. Das Getriebe ist nicht das, was man als knackig bezeichnen würde, doch die Wege sind gut definiert, auch die Lenkung ist präziser als bei anderen Fahrzeugen aus den 70er Jahren. Die Abstimmung des Federung darf man als straff bezeichnen, trotzdem lehnt sich der Schwede tief in die Kurven; die Scheibenbremsen sind eher klein dimensioniert, doch der Wagen wiegt ja auch nur 1200 Kilo, da geht das ganz gut. Und wenn man dann einmal im Fluss ist, dann kommt da auch Fahrfreud’ auf – allein schon deshalb, weil man den «Schneewittchensarg» noch selber fährt, nicht von ihm gefahren wird. Innen ist alles schön übersichtlich, alles, was man braucht (unter anderem: kein Tablet, keine Connectivity), die Sitzposition ist tief, Seitenhalt entsteht unter anderem dadurch, dass es eher eng ist in diesem Wagen, man auch schön nah an der Tür sitzt. Sound gehörte allerdings schon damals nicht zu den Stärken der Schweden, auch deshalb wird man gerne auf höhere Drehzahlen und sportliche Ambitionen verzichten. Was aber grossartig ist: es gibt wohl nicht viele Fahrzeuge, die im Verkehr mehr Sympathien geniessen als der P1800 ES, man wird fleissig gegrüsst und angelächelt und bewundert für den guten Geschmack, den man da spazierenfährt. Sinnvollerweise macht man dies aber höchstens zu zweit, denn in der zweiten Reihe fühlen sich nur beinamputierte Eichhörnchen wohl; bei umgeklappter Rücksitzbank stehen rund 1000 Liter Kofferraumvolumen zur Verfügung. Schokolade sollte sich allerdings keine im Gepäckraum befinden, der heizt sich schnell und heftig auf.
Offiziell waren es die verschärften amerikanischen Sicherheits- und Abgasbestimmungen, die den Volvo P1800 S und ES 1973 das Genick brachen. Wahrscheinlicher ist, dass sich die Anpassungen wohl kaum mehr gerechnet hätten, denn vom Schneewittchensarg wurden nur gerade 8077 Stück abgesetzt. Dies wohl auch deshalb, weil er in Deutschland über 25’000 Mark kostete, fast gleich viel wie ein Porsche 911; in der Schweiz war er mit 25’800 Franken angeschrieben, dafür gab es auch einen Ford Capri mit 2,6-Liter-Sechszylinder oder einen Opel Commodore GS/E. In den USA erhielt man für das gleiche Geld wie für den Volvo einen anständig motorisierten Camaro. Ein sehr hübsches und gutes Exemplar kommt übrigens am kommenden Samstag, 30.3., bei www.oldtimergalerie.ch in Toffen zur Versteigerung.
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