Fahrbericht Alfa Romeo Giulia SS
Von einem anderen Stern
Der Tesla-Pilot lenkt seinen E-Wagen fast in den Strassengraben. Man sieht seinem Gesicht an, dass er gerade eine Erscheinung hat, dass er einem Wesen von einem anderen Stern begegnet ist, dass in seinem Kopf ein Film abläuft, dass er sich fragt, warum er in einem teuren Fahrzeug mit dem Charme eines Kühlschranks unterwegs sein muss, wenn es doch auch schöne Automobile gibt. Er wendet, er fährt zurück, er parkt, er steigt mit genügend Sicherheitsabstand aus – und dann schaut er einfach zu, wie wir den silbernen Alfa Romeo Giulia 1600 Sprint Speciale, besser bekannt als «esse-esse» photographieren. Es ist dies übrigens eine angenehme Aufgabe, Bilder von dieser Giulia zu erstellen, es gibt nur wenige Automobile, die über so viele schöne Details verfügen, die aus jedem Winkel wieder eine andere schöne Ansicht bieten, die man einfach nur betrachten möchte. Geniessen. Und dabei dankbar sein, dass es einst so wunderbare Fahrzeuge gab.
Es war da, einst, Franco Scaglione. Er war unter den bekannten italienischen Designern der Gentleman, immer bestens gekleidet, er rauchte wie ein Schlot, er fuhr am liebsten Mercedes, er reiste in Begleitung «einer Sekretärin von atemberaubender Schönheit», wie Ferruccio Lamborghini gerne erzählte. Scaglione arbeitete zwar für Bertone, doch eigentlich war er immer sein eigener Chef – seine Entwürfe hatten ihren ganz eigenen Stil. Berühmt wurde er spätestens mit seinen drei Alfa Romeo Berlinetta Aerodinamica Tecnica, besser bekannt als B.A.T. 5, 7 und 9. Diese Aerodynamik-Studien waren dann auch die Grundlage für die Giulietta Sprint Speciale, die 1959 vorgestellt wurde. Weniger Luftwiderstand, das war offensichtlich, konnte der 1954 vorgestellten Giulietta gerade auch im Rennsport die entscheidenden Vorteile bringen.
Es war reichlich Arbeit. Der Radstand der Giulietta wurde um 13 Zentimeter auf 2,25 Meter verkürzt, ein erster Aufbau von Hand aus Aluminium gedengelt. Und was das für eine Karosserie war: 12 Zentimeter breiter als bei der sehr sportlichen Giulietta Sprint Veloce von Zagato, 14 Zentimeter länger – und 11 Zentimeter niedriger. Typisch: das Kamm-Heck. Der erste Prototyp, intern Sprint Spinta, im Volksmund auch Squalo (Hai) genannt, erinnerte von vorne mehr an einen Ferrari als an einen Alfa. Das Fahrzeug wurde ausführlich getestet, zuerst im Windkanal von Moto Guzzi, dann auf der Autobahn zwischen Mailand und Turin. Und es wurde ein Luftwiderstandsbeiwert von 0,28 gemessen. Als Antrieb diente der klassische 1,3-Liter (für den aber 90 PS angegeben wurden), geschaltet wurde über ein neues 5-Gang-Getriebe. Vorgestellt wurde dieses Fahrzeug erstmals auf dem Salon in Turin im Herbst 1957.
Noch zwei weitere Prototypen wurden gebaut, der zweite hatte eine kleine Plexiglas-Scheibe vor der Frontscheibe. Die Frage nach dem Warum lässt sich wohl nicht endgültig beantworten, es heisst einerseits: Insektenschutz, andererseits: aerodynamische Hilfe für die Scheibenwischer, damit diese bei höheren Geschwindigkeiten nicht abhoben. Apropos Geschwindigkeit: 200 km/h waren problemlos möglich. Präsentiert wurde das Serienprodukt am 24. Juni 1959 in Monza, die ersten 101 Fahrzeuge (für die Homologation waren 100 Exemplare nötig) trugen noch die Identifikationsnummern 750SS und wurden bis Ende 1959 gebaut (mit fünf Ausnahmen), vier davon sind wohl «alleggerita», komplett aus Alu, 60 waren in Rosso Alfa lackiert, 40 in Bianco Gardenia und einer in Grau, Grigio Charissimo. Diese ersten Exemplare werden heute als «low nose» bezeichnet.
Das Problem war: die Sprint Speciale taten keinen Stich gegen die Zagato-SVZ. Was in erster Linie am Gewicht lag, da hatten die Sprint Veloce einen klaren Vorteil. Alfa Romeo entschloss sich deshalb, den SS als luxuriöses Coupé zu positionieren, es verschwanden in der zweiten Serie, als 101.20 bezeichnet, die Alu-Türen (Motorhaube und Kofferraumdeckel blieben in diesem Material) und die Plexiglas-Fenster, der Innenraum wurde komfortabler gestaltet. Am auffälligsten war die neue Front, sie wurde um 7 Zentimeter erhöht – auch deshalb, weil sie dann den amerikanischen Vorschriften entsprach. Vorgestellt wurde die «neue» Giulietta SS 1960 – und gebaut bis 1963, als sie durch die Giulia SS abgelöst wurde. Aussen gab es kaum Veränderungen, aber der Innenraum wurde deutlich aufgewertet, es wurde fast schon elegant. Und dann war da noch der neue Antrieb, der bekannte 1,6-Liter-Vierzylinder mit den zwei obenliegenden Nockenwellen und 112 PS, der in jenen Jahren auch in anderen Giulia-Modellen seinen Dienst tat.
Wir können die «Doppelnockenwelle» blind erkennen – an ihrem Sound. Dieser ist so typisch, unvergleichlich, man muss das Auto gar nicht sehen. Und auch wenn 112 PS (bei 6500/min) und 132 Nm maximales Drehmoment (bei 4200/min) heute als schwächlich gelten – es ist wunderbar, wie die 950 Kilo schwere Giulia SS, die uns von der Oldtimergalerie in Toffen zur Verfügung gestellt wurde, durchzieht. Natürlich ist das nicht wild, kein Vergleich zu den heutigen Drehmoment-Monstern, aber die Kraftentwicklung ist so schön linear, die Maschine reagiert auf jedes Zucken im Gasfuss. Und sie tönt so wunderbar, wir verlieben uns immer wieder aufs Neue. Das 5-Gang-Getriebe (mit so genannter Porsche-Synchronisation) lässt sich locker schalten, die Wege sind kurz und gut definiert, die Anschlüsse passen, wenn man den Motor bei Laune hält. Gut 200 km/h waren damals schon möglich, wir mussten Zurückhaltung üben, denn man ist in diesem mehr als 50 Jahre alten Fahrzeug schnell einmal schneller, als es die gesetzlichen Vorgaben erlauben. Wie schrieb die damals noch relevante «Automobil Revue» einst so schön: «Aber was die Alfa-Leute an Kultur in dieses feine Wägelchen gezaubert haben, ist allerhand».
Ist man auf der Landstrasse etwas flotter unterwegs, dann spürt man in den Kurven gut die Neigung der Karosse – sie ist vielleicht etwas gar weich abgestimmt, die Giulia SS. Aber sie wurde ja damals auch auf die Langstrecke getrimmt, mit reichlich Komfort versehen. Und man kann sich gut vorstellen, dass der Alfa Romeo zu sehr plötzlich einsetzendem Übersteuern neigt – eine Kritik, die in machen zeitgenössischen Testberichten zu lesen ist. Die Lenkung ist – für damalige Verhältnisse sowieso – ausreichend präzis, auch die Bremsen sind anständig; es lassen sich im Alfa sicher hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten erfahren, auch heute noch. Die Sitze bieten zwar so gut wie keinen Seitenhalt, aber dafür sind sie: schön. Und bequem. Die Bedienung eröffnet keine Rätsel – es dauerte aber eine kleine Ewigkeit, bis wir den Rückwärtsgang gefunden hatten (ganz, ganz rechts, unten). Ach, wir hätte noch ewig weiterfahren wollen, auch die Blicke geniessen des Publikums am Strassenrand (und im Tesla) – nur wenige Fahrzeuge erregen so viel Aufmerksamkeit wie das Meisterwerk von Scaglione (der übrigens schon gar nicht mehr für Bertone arbeitete, als die Giulietta SS auf den Markt kam). Man sieht sie halt auch nur selten, diese Sprint Speciale, als Giulietta wurden 1366 Stück gebaut, als Giulia dann noch einmal 1400. Die Preise haben sich in den vergangenen Jahren stabilisiert, die «low nose» sind extrem teuer, als Giulia sind sie ab knapp sechsstellig zu haben.
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