Mille Miglia 2016
Teil der Maschine
Keine Ahnung wie John Fitch das damals gemacht hat. Nicht das mit dem fünften Gesamtrang, weit vor einigen Ferrari und Maserati, sowie all den 550 Spydern, nein, es geht uns mehr so um die Innenraumtemperaturen.
Vielleicht sind wir ja auch einfach nur anderes gewöhnt heute, aber in so einem Flügel wird es im Renneinsatz doch recht schnell kuschelig. Besonders dann, wenn er ein paar Minuten gestanden hat. An der Zapfsäule etwa, oder im Stau vor der Zeitenkontrolle. Wieder in Fahrt weht er dann gleichgültig die gesamte Stauwärme locker in den Innenraum durch diese kleine Luke unter dem Armaturenbrett. Siebzig Grad misst man dort in solchen Situationen gerne, was vor allem dann ein Problem ist, wenn du eigentlich kühlen Kopf bewahren musst.
Denn, wir erinnern uns, es ist Mille Miglia und wir sitzen im Flügel. Nicht irgendeinem, nein, diese ordinären Millionen-Dollar-SL wären viel zu profan, es sollte dann schon etwas besonderes sein: das Siegerauto von 1955. Der Dunkelgraue mit den knock-off Rudges, dem Fliegenspoiler auf der Haube und der liebevoll aufgemalten Startnummer 417. Schon im Stand der Schnellste – auch dank des blauen Motorsportkaros im Innenraum und der fehlenden Stoßstange vorne.
Das willst du nicht irgendwo vor eine pittoreske italienische Hauswand fahren, aber man will dann auch nicht bloß am Straßenrand Blümchen pflücken, schließlich ist die Mille auch heute noch das, was sie immer war: ein Rennen. Das wurde spätestens dann klar, als wir am ersten Tag im Regennassen in zweiter Reihe einen Austin Healey niederrangen, dabei aber gleichwohl von einem sündschönen Maserati A6 GCS Fantuzzi paniert wurden, der den entgegenkommenden Fiat bloß lässig mit einer Hand am Lenkrad grüßte. Fast entgangen wäre uns dabei das englische Duo, das – ganz wie daheim – im Ferrari Testa Rossa einfach gleich ganz links an jenem Punto vorbeizog und locker wedelnd als Erster in den Kreisverkehr einbog. Wo der Verkehrsplaner zwei Spuren, je eine in jede Richtung vorsieht, werden auf der Mille einfach mal fünf. Oder eben: so viele es halt braucht.
Es ist ein fantastischer Anblick. Wie Hütchen spielen. Nur das alle immer wissen wo du Kugel ist: nämlich im Fußraum rechts. Der Italiener an sich hat sowieso große Freude an diesem Vollgasspiel. Kommen zu den kunterbunten Fiat 500, angezählten Pandas, ja sogar nimmermüden Unos und Tipos dann noch die prachtvollsten aller Oldtimer aus den goldenen Zeiten des Straßensports, steht das Land Kopf. Überall wird geklatscht, gewunken, gejohlt, mitgefahren, fotografiert oder einfach komplett ausgerastet, wie jener Ducatisti, der sich des Nachts in unseren eskortierten Vollgas-Korso durch Rom geschlichen hat, seinen Termignoni-bewehrten Testastretta dabei stetig heftigst auswrang und – wie wir – die Zeit seines Lebens hatte.
Überhaupt, Zeit: was ist das eigentlich?
In einer Woche Mille Miglia hebelst du das eigene Gefühl über Tag und Nacht komplett aus. Sechszehn Stunden tief drinnen im Flügel, höchste Konzentration sowohl beim Fahrer, der den Bock gefälligst auf der Straße halten muss, ohne dass dich die leichten italienischen Rennwagen zu sehr demütigen; als auch auf der anderen Seite des Kardantunnels, wo du als Beifahrer damit beschäftigt bist pro Tag gut 800 Navigationsansagen zu machen, Zeiten zu kalkulieren, Schnitte zu stoppen und zusammengekettete Wertungsprüfungen zu koordinieren. Am Ende des Tages reicht es genau zu einem Bier, wonach du wie ein Stein in das Bett fällst, um vier Stunden später nicht etwa mit Streichhölzern in den Augen in der Dusche zu stehen, nein, da lässt du im Sattel des SLs schon wieder das Öl warmlaufen.
Das alles ist: geilst! Weil nichts eine Rolle spielt. Schlafdefizit, Hunger, Konzentrationsschwäche – nicht einmal meine Konfirmandenblase meldet sich zu Wort. Sobald die Tür satt ins Schloss fällt (und danach herrlich fröhlich vor sich hin klappert!), zieht dich der Flügel ganz tief in seinen Bann. Wer hier erzählt er brauche Red Bull, oder sonstige Aufputscherei, der hat irgendetwas – sorry – grundlegend falsch gemacht.
Mit einem Finger am Lenkrad fahren, die Zeit locker absitzen und den Grenzbereich der Kurve von irgendeiner Fahrhilfe auslenken lassen? Vergiss es. Am Besten ganz schnell. In Wahrheit hast du alle Hände voll zu tun, wenn #417 schnell ums Eck soll. Allein wegen des grotesk großen Lenkrades ist das auch wörtlich zu nehmen. Und, fun fact, auch der Grund, warum jeder (!) 300 SL zwei Hupenknöpfe hat. Den einen im Lenkradtopf wie eh, den anderen prominent vor dem Beifahrer.
Denn der kann schließlich, mit dem Roadbook und den Stoppuhren auf dem Schoss, mit einer Hand die Fahrtrichtung anzeigen und mit der zweiten dann: hupen! Den kreuzenden Verkehr warnen, dass hier gleich der Flügel in maximaler Attacke über die Kuppe kommt und der Fahrer dazu eben die Hände in großer Ruhe am Lenkrad braucht. Es ist vielleicht das schrägste Detail an diesem Auto und weil es dir doch eben wie kein Zweites zeigt, dass das hier ein reinrassiger Straßenrennwagen für die großen Klassiker war, ergreift es dich noch mehr.
Man stelle sich das heute vor: sie haben da einfach ein Auto gebaut um die Rennstrecken dieser Welt zu beherrschen; aus der Technik der schweren Limousine, gepresst in einen zarten Rohrrahmen, den der Konstrukteur der Legende nach auf einen Schmierzettel kritzelte, geadelt mit einem Höllenmotor; dann eben aber auch gewusst, dass das nicht so ganz einfach zu fahren sei und anstatt die Konstruktion etwas feiner zu durchdenken, montierten sie ganz normal einen Hupenknopf für den Beifahrer.
Zur Erinnerung: nicht Ferrari, Maserati oder Fiat, nein, der Daimler war’s.
Der Mercedes-Benz 300 SL ist ein unfassbares Viech. Tief in der Nacht, irgendwo in den Bergen vor Rom, weit im Hinterland, wo sich kein anderer Verkehrsteilnehmer auf die locker dahinfließenden Landstraßen verirrt, da ist er in seinem Element. Die schönste Situation sind Kreuzungen, weil danach das herrliche Spiel immer von Neuem beginnt: sanft biegst du ab, legst die Zweite zuvorkommend früh ein, wartest dann bis die Nockenwelle bei 4000 Touren zu voller Form aufläuft, ziehst ihn noch ein bisschen weiter, schnickst die Drei rein und stempelst durch. Bis aufs Bodenblech.
Der Bug hebt sich, der Mond spiegelt sich hell im Insektenschild und der Dreiliter grunzt ein derartiges Ansauggeräusch durch die Nacht, dass dir die Tränen kommen. Weil ihn all’ das Geplätscher bei Halbgas langweilt, weil er gebaut worden ist, um zu dominieren und weil er zu frohlocken scheint, wenn du ihm zu verstehen gibst, dass du verstanden hast. Vollgas. Dieses Hohle im Ton; dieses die Welt verschlingen wollende Tremolo aus den polierten Ansaugrohren, wenn der Tourenzähler über die 6000 wischt und alle 215 Pferde in vollem Lauf dem römischen Horizont entgegenballern: es ist, so sehr ich mich auch mühe, unbeschreiblich. Unbeschreiblich gut.
Vielleicht liegt das gar nicht mal am Motor selbst, sondern daran wie der Ton in diesem Umfeld wirkt. Wenn alles zusammenkommt. Die beinahe intime Enge im Innenraum, frei von jeder Luftigkeit, die dir irgendwelchen Raum zum Abschweifen böte – was natürlich auch an den absurden Geschwindigkeiten liegt, die dir den Blick aus der kleinen Windschutzscheibe auf den kargen Lichtklecks der Bosch-Scheinwerfer zu einem engen Tunnel zusammenschmelzen lässt – und die völlige Abgeschiedenheit hier oben in den Bergen. Weil deine Konzentration dann auf das absolut Wesentliche reduziert ist: dich und den Flügel.
In dieser Situation bist du weit mehr als bloß Fahrer. Du bist Teil der Maschine.
Dass sie dir aber doch – ganz egal wie du dich mühst, ganz egal wie sehr du sie packst – jederzeit locker überlegen ist zeigt sie, wenn du mal wieder nach einem Drehzahlrausch zu früh aus dem Gas gehst. Beinahe beleidigt schnarrt es aus dem rotglühenden Krümmer, wenn sich der Reihensechser im overrun vom Getriebe schleppen lassen muss – und dieses prasselnde Sägen, wenn er dabei aus den hohen 5000ern kommt, kann selbst ein Maserati 300S nicht schöner.
Der Flügel liebt das Tempo, die Last und die große Anstrengung. Denn er ist dafür gebaut worden. Einzig und allein dafür. In dieser Ausnahmesituation – und die Mille Miglia ist im Grunde eine einzige Ausnahmesituation – zeigt sich das in einer Klarheit, wie sie auf das Wesentliche nicht reduzierter sein könnte.
Dass er aber auch die gesamte Distanz ohne auch nur eine einzige Unregelmäßigkeit abgespult hat, keinen Tropfen Öl gebraucht hat, keine Zündaussetzer, kein Verschlucken, kein Überhitzen, kein gar nichts, offenbart eine ganz andere Seite: bei aller Rennflügelei ist es immer noch ein Mercedes-Benz. Und wo die MM-Specials aus Maranello, die Cisitalia, Lancias, allem voran aber die Jaguar und Aston Martin mit abgesoffener Elektrik, geplatzten Kühlern und abgerauchten Kupplungen am Wegesrand auf den Abschlepper warten mussten, ist der 300 SL ganz locker vorbeigezogen.
Nicht, dass er es auf offener Strecke nicht auch so geschafft hätte, aber genau dieses beinahe Schizophrene macht den Flügeltürer zu diesem unfassbaren Automobil. Der immerzu brav startende, absolut unprätentiös flanierende Wagen auf der einen und dann dieses siegesgewiss brüllende Tier auf der anderen Seite – in so einer Spreizung hat es das nie wieder gegeben.
Vor allem aber wird es das nie wieder geben.
Und genau deshalb ist die Mille Miglia so wichtig – sie bringt die Autos dorthin zurück, wo sie das tun können, wofür sie gebaut wurden: Rennen fahren.
Denn dafür und nur dafür sind sie da.
fm
Unser tiefer Dank an dieser Stelle der Mannschaft von Mercedes-Benz Classic. Für das Vertrauen und für das Erlebnis. Ein Wahnsinn, beides.
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