Lancia Aurelia
Götterdämmerung
Das waren noch Zeiten, gute Zeiten. Da ging ein relativ kleiner (und heute quasi toter) Automobil-Hersteller einher und konstruierte ein Automobil, das ganz viele «zum ersten Mal» für sich reklamieren durfte. Es ist dies zwar immer eine heikle Sache in der Automobil-Geschichte, wenn man dann schreibt, dass der Lancia Aurelia das erste Auto gewesen sein soll mit einem V6-Motor, denn es gab sicher schon ein anderes, das noch früher. Auch dass dieser V6, gebaut im klassischen Winkel von 60 Grad, einer der ersten gewesen sein soll, der komplett in Leichtmetall ausgeführt wurde, auch darüber lässt sich sicher trefflich streiten. Und nein, das allererste Fahrzeug, das serienmässig über Radial-Reifen verfügte, war die Aurelia wohl auch nicht. Und das erste, das in Transaxle-Bauweise konstruiert war, das war dieser Lancia ganz sicher nicht, diese Ehre gebührt – wahrscheinlich – dem Skoda Popular, der schon in den 30er Jahren auf den Markt gekommen war. Und doch: die Aurelia von Lancia, gebaut zwischen 1950 und 1958, war auf jeden Fall ein absolut aussergewöhnliches Fahrzeug, ein Meisterwerk, vielleicht die Krönung des Schaffens des genialen Vittorio Jano. Denn all das, Leichtmetall-V6, Transaxle, Reifen und vor allem dann auch noch das Design machen den Italiener zu einem Meilenstein der Automobil-Geschichte.
Die Entwicklung begann unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg. Francesco de Virgilio hatte unter den Ägide von Jano einen Leichtmetall-V6 konstruiert mit obenliegenden Ventilen und hemisphärischen Brennräumen. Sein Leben begann dieses Kunstwerk mit 1,6 Liter Hubraum (Bohrung x Hub: 68 x 72 Millimeter), doch im Laufe der Jahre stieg der Hubraum auf 2,5 Liter. Und damit auch die Leistung: mit etwa 50 PS hatte alles begonnen, die letzte, sechste Serie hatte dann 112 PS (bei der fünften waren es sogar 118 PS, doch die sechste hatte dafür deutlich mehr Drehmoment).
Auf den Markt kam die Aurelia 1950, zuerst als Berlina, genannt B10, mit 1,8 Liter Hubraum (56 PS). Schon ein Jahr später kam der B21 mit 2 Liter Hubraum (70 PS); gleichzeitig gab es auch den B20 GT, ein Coupé mit verkürztem Radstand, gezeichnet von Ghia, gebaut bei Pininfarina, ausgerüstet mit dem 2-Liter-V6, der im sportlicheren Modell dann 75 PS leisten durfte. Von dieser ersten Serie wurden genau 500 Exemplare hergestellt. Die zweite Serie hatte dann bereits 80 PS und erhielt deshalb auch bessere Bremsen; als B22 Berlina waren ab 1952 sogar 90 PS möglich. 1953 folgte schon die dritte Serie, jetzt auch mit auf 2,5 Liter Hubraum vergrösserten Motor – und ohne Heckflossen. Mit der vierten Serie wurde eine DeDion-Hinterachse eingeführt – und es gab einen Spider (B24), mit gegenüber dem Coupé noch einmal verkürztem Radstand. Die fünfte Serie (ab 1956) wurde weiter verbessert, aus dem Spider wurde ein Cabrio, und die sechste Serie war dann nur noch eine weitere Verfeinerung. Und ja, die Übersicht über die genauen Bezeichnungen der verschiedenen Aurelia ist ziemlich schwierig, denn neben den Berlina (B10, B21, B15, B22, B12), den Coupé (B20, entweder als 2000 oder 2500) und den offenen Modellen (B24, entweder als Spider oder als Cabriolet) gab es auch noch die Chassis (B50, B51, B52, B53, B55/56, B60), die den verschiedenen italienischen Massschneidern verkauft wurden. Insgesamt entstanden in acht Jahren 18’201 Aurelia.
Von denen einige erstaunlich erfolgreich waren im Rennsport. 1951 schafften Bracco/Maglioli einem 2. Platz bei der Mille Miglia, 1952 fuhr Bonetto bei der Targa Florio auf den ersten Rang (zwei weitere Aurelia vervollständigten das Podest) und 1953 gewann Claes die damals sehr bedeutende Rallye Lüttich-Rom-Lüttich. Juan Manuel Fangio fuhr privat einen B20, und auch Mike Hawthorn.
Der Höhepunkt des gesamten Aurelia-Schaffens war aber sicher der B24. Es heisst, dass diese Variante auf Anregung von Maximillian Hoffman konstruiert worden sei, dem amerikanischen Importeur von Lancia, der sich eine sportlichere, offene Version der Aurelia wünschte, weil er eine solche in den USA besser verkaufen konnte als die Limousinen und Coupé. Hoffman ist eine dieser Lichtgestalten der Automobil-Geschichte, auf seine Anregung hin baute Mercedes den 300 SL (zuerst als Flügeltürer, dann auch als Roadster) sowie den 190 SL, BMW überzeugte er, den 507 zu konstruieren, Porsche schwatzte er den legendären Speedster auf, Alfa den Spider der Giulietta. Und Lancia, eben, den B24 Spider. Der zudem noch zur Meisterprüfung von Pininfarina werden durfte.
Die Gestaltung ist wunderbar einfach, sehr elegant – man darf davon ausgehen, dass sich Pininfarina die Riva-Motorboote sehr genau angeschaut hatte, bevor er sich ans Zeichenbrett setzte, davon zeugt allein schon die Panorama-Windschutzscheibe. Herrlich auch der Knick vor den hinteren Kotflügeln, ein Markenzeichen von Pininfarina, aber wohl nie so elegant ausgeformt wie beim B24. Die Zusammenarbeit zwischen Pininfarina und Ferrari war damals noch ganz frisch (Pininfarina baute die ersten 240 Exemplare des B24 zwischen Dezember 1954 und Oktober 1955), und so kamen viele Einflüsse des schönen Lancia später auf den Sportwagen aus Maranello zugute. Das Dach des B24 Spider hingegen war eine Fehlkonstruktion, es liess sich kaum schliessen und war zudem alles andere als wasserdicht. Aber ein so schönes Automobil fährt man gefälligst sowieso nur offen – dann sehen auch die Insassen besser aus.
Schöne Anekdote im Zusammenhang mit «wasserdicht»: 50 Exemplare dieser ersten Serie von B24 liegen irgendwo vor Nantucket auf dem Meeresgrund. Sie waren am 25. Juli 1956 an Bord der Andrea Doria gewesen, als diese vor der amerikanischen Küste im Nebel mit der Stockholm kollidierte und unterging. Und noch so eine Fussnote der Geschichte: Bis 1955 waren alle Lancia rechtsgelenkt. Alle. Dann gab es die ersten linksgelenkten Lancia, und zwar 181 dieser ersten B24-Serie, folglich B24S genannt, S für Sinistra. 50 dieser S liegen aber auf dem Meeresgrund.
Wir können hier gleich einige verschiedene Aurelia zeigen; das grünliche Exemplar entstammt einer zweiten Serie von B24, gebaut ab Juli 1956. Es verfügt über den stärksten aller Aurelia-Motoren, den 2,5-Liter-V6 mit 118 PS, und basiert auf der fünften Aurelia-Serie. Diese Fahrzeuge wurden dann nicht mehr Spider genannt, sondern trugen den offiziellen Namen Aurelia GT 2500 America Convertible – womit auch gleich klar ist, wo sie zumeist verkauft wurden. Insgesamt wurden nur gerade 521 B24 gebaut. Das graue Fahrzeug ist ein B24S Convertible von 1957. Und dann ist da noch die blaue Aurelia, Jahrgang 1958, sie kommt Mitte Mai bei RM Sotheby’s in Monaco unter den Hammer – und erwartet werden schon so etwa 300’000 Euro…
Mehr schöne Oldies gibt es, im Gegensatz zu Lancia, in unserem Archiv.
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