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McLaren 720S Spider – eine Erfahrung

Published in radical-mag.com

Jetzt-Zeit

Und dort in der Wüste von Arizona, Kakteen, Sand, Hitze, kein Mensch weit und breit, taucht unvermittelt die Mann’sche Frage aus dem «Zauberberg» auf: Was ist die Zeit? Dumme Frage, hätte Wittgenstein wohl geantwortet, oder zumindest: keine sinnvolle. Gemäss Kant handelt es sich bei der Zeit dagegen um eine ganz reine Form der Anschauung: «Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich». Und Albert Einstein meinte lächelnd: «Zeit ist, was die Uhr anzeigt».

Drei Sekunden. 21, 22, 23. Nur gerade drei Sekunden lang kann das menschliche Gehirn Reize zu einer Wahrnehmungseinheit verpacken und verarbeiten. Das war es dann schon, dieser berühmte Augenblick. Verweile doch! Du bist so schön! In drei Sekunden fährt man (nicht nur) im McLaren 720S Spider bei Tempo 100 rund 82 Meter weit; bei Tempo 300, was im Spider auch offen möglich ist, sind es also fast 250 Meter. Erstaunlich ist, dass dem Menschen drei Sekunden bei 300 km/h deutlich länger vorkommen als bei 100 km/h – je mehr man erlebt, desto länger kommt einem im Nachhinein die Zeitspanne vor. Die 2,9 Sekunden, die der McLaren braucht, um 100 km/h zu erreichen, sind aber verdammt schnell vorbei. Auch die acht Sekunden bis 200, denn alle zur Verfügung stehenden Sinnesinformationen eines gegebenen Moments wie Hitze, Durst, Lärm sowie unsere Emotionen sind eng verknüpft mit dem Zeitbewusstsein und werden zum Ich-Erlebnis; Selbstwahrnehmung und Zeiterleben sind untrennbar miteinander verbunden. Doch wie wusste schon Albert Einstein: «Zeit ist, was die Uhr anzeigt». Dieser pragmatische Zugang war der Schlüssel zur Aufstellung seiner Relativitätstheorie, die eine radikale neue Besinnung über Raum und Zeit mit sich brachte; alle subjektiven Elemente kann man so einem einfachen Blick auf die Uhr ausblenden – nur das Messbare zählt. Auf dem Papier und noch mehr am Stammtisch macht es einen Unterschied, ob es nur 2,9 oder halt eben doch 3 Sekunden sind.

Doch zurück zu Thomas Mann und der «Der Zauberberg» sowie der Frage: Was ist die Zeit? Mann schriebt dort zu Beginn des sechsten Kapitels: «Ein Geheimnis, – wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt!» Wir fragen uns, dort in der Wüste, kein Mensch weit und breit, der eine Antwort geben könnte: Vergeht die Zeit schneller in einem Sportwagen? Geht uns die Zeit aus? Haben wir noch Zeit für die Dinge, die wir tun wollen und müssen, für die Dinge des Lebens, für uns selbst? Ist man in einem Spider dem Himmel tatsächlich näher? 15 Sekunden dauert es übrigens, bis das Dach offen ist. Das ist fast doppelt so lang wie der Sprint von 0 auf 200 km/h; es ist alles relativ.

Nennen wir es: Jetzt-Zeit. Wir könnten es auch als «quality time» bezeichnen, wer die Möglichkeit hat, in einem McLaren 720S Spider durch die verschiedenen Wüsten In Arizona zu fahren oder neben dem Engländer und im Schatten einer Kaktee darüber zu philosophieren, was ihm denn die Zeit bedeutet, der darf sich a priori glücklich schätzen. Doch es braucht auch die Fähigkeit zum Genuss, das Wissen um diese Fähigkeit, die Möglichkeiten, sich dieses Wissen aneignen zu können. Und dann natürlich auch noch den entsprechenden McLaren. Ob dieser auch die Fähigkeit besitzt zu empfinden? Fast könnte man es meinen, fast erwartet man, dass im Display eine Meldung aufploppt: «Fahr schneller!». Oder: «Ich, Dein McLaren 720S, langweile mich». Vielleicht sogar: «Kauf doch ein Elektroauto, wenn Du nur schleichen magst». Oder: «Nutze die Zeit intensiver, die Du mit mir verbringen darfst». Die Zeit, so denken wir uns, ist für die Menschen wie das Wasser für den Fisch und die Strasse für den McLaren. Der Fisch schwimmt, ohne sich Gedanken zu machen, in was er sich bewegt; der McLaren fährt wie der Fisch schwimmt. Der Mensch besitzt jedoch – und das unterscheidet ihn von einem Fisch und dem 720S – die Fähigkeit, sich über jene Elemente, in oder auf oder mit dem er sich bewegt, Gedanken zu machen. Der Mensch hat keine Zeit: er ist die Zeit.

Alles ist: jetzt. Die Berührung des Leders. Der Blick über schwellenden Formen. Das Ohr, das lächelt. Die Nase, die Geschwindigkeit spüren kann. Kurven, mehr Kurven. Die Angst vor dem Sheriff, der sich hinter den Kakteen versteckt, Böses im Sinn. Alle Sinne sind wach, angespannt, das Erleben ist intensiver, die drei Sekunden der Wahrnehmungseinheit voll gepackt mit Reizen. Ja, verweile doch! Ja, mehr davon! Und dazwischen: Random Episodic Silent Thinking (REST), wie es die Psychologen nennen. Nichts tun. Den Gedanken nachhängen. Es ist jener Betriebsmodus des Gehirns, der uns immer wieder mit Aha-Momenten überrascht. Wichtig ist nur, angeregt abschalten zu können. Und doch aufnehmen zu wollen. Der McLaren wandelt sich zur individuellen Erlebniswelt, zu einer Zeitmaschine, in der wir uns selbst begegnen können.

Und was bleibt? Momente. Immer diese Momente, Situationen, Sekunden, Bilder, Kurzfilme. Der Auto-Händler rechts, ein furchtbares Ghetto, Motorräder und alte Chevy-Kombi; wir hätten anhalten sollen. Aber es bleibt ein Bild haften im Gedächtnis. Die beiden hübschen jungen Damen, die uns in ihrem furchtbaren Chrysler Neon immer wieder überholt haben, um sich wieder überholen zu lassen, und uns jedes Mal zulächelten, dann auch noch zuwinkten; hätten wir doch. Eine schöne Situation, ein Lächeln wert, ein paar Gedanken, die durchaus auch weiter schweifen könnten. Dort oben auf dem Hügel, viel zu schnell über die Kuppe – und dann siehst Du in der Ferne den See silbern glitzern – ein kurzer Film von vielleicht drei Sekunden? Die Frage des Beifahrers, wie alt wohl diese Kakteen sind. Und was sie wohl alles schon erlebt haben; was hätte wohl Wittgenstein darauf geantwortet? Die Frage, ob man die 50 Kilo Mehrgewicht des Spider tatsächlich spürt? Nein.

Mehr schnelle Wagen gibt es in unserem Archiv. Dort unter anderem auch den Fahrbericht zum McLaren 720S.

Der Beitrag McLaren 720S Spider – eine Erfahrung erschien zuerst auf radicalmag.