Test Kia Stinger
Der Stolz der Koreaner
Was haben wir gelacht, damals, als uns Kia den Pride kredenzte. Ein Kleinwagen, eine Gemeinschaftsentwicklung von Ford, Mazda und Kia, eine Kiste, hässlich wie die Nacht. Aber immerhin einigermassen praktisch. 1986 war das, als man uns den Pride (zu Deutsch: Stolz) präsentierte. Das soll der Stolz Koreas sein? Jesses – gute Nacht, koreanische Automobilindustrie.
Seitdem hat sich viel getan, und was nahezu allen Asiaten gemein ist – sie lernen schnell. Mittlerweile hat sich Kia trotz teils abenteuerlicher Modellnamen (ich erinnere gerne an klangvolle Bezeichnungen wie Carnival, Opirus oder Magentis) bestens in Europa etabliert. Vielleicht auch, weil sie seit langem etwas bieten, das sich die europäischen Hersteller nicht trauen – sieben Jahre Garantie. Ich habe mich schon oft gefragt, ob allen voran die Autobauer aus Deutschland wirklich so wenig Vertrauen in ihr eigenes Schaffen haben, dass man sich immer noch mit meist zwei Jahren Werksgarantie begnügen muss.
Egal, kommen wir zum neuen Stolz der koreanischen Autoindustrie, dem Stinger. Der Name klingt schon mal besser als Opirus oder Magentis, allerdings würde ich persönlich lieber kein Auto fahren, das gleich heisst wie eine amerikanische Boden-Luft-Rakete, aber lassen wir das. Stinger bedeutet wörtlich übersetzt Stachel. Naja, ein Stachel ins Fleisch der europäischen Autobauer könnte die viertürige, coupeartige Limousine tatsächlich werden. Denn der Kia Stinger bietet eine relativ rar gewordene Kombination: Frontmotor längs eingebaut und auf einigen Märkten kombiniert mit Hinterradantrieb. Das ist in dieser Leistungsklasse echt selten geworden. Denn der Stinger mit dem 3,3-Liter grossen Twinturbo-Benziner drückt schon ziemlich was ab. 370 PS, das ist eine Ansage, also mal ganz sicher für einen Kia.
In der Schweiz wird nur das Modell mit Allradantrieb angeboten, will heissen, die Kraftübertragung ist mit den 510 Nm eigentlich nie überfordert. Das gilt im speziellen für das achtstufige Automatikgetriebe. Es schaltet zwar nicht wahnsinnig schnell, aber sehr feinmütig und elegant – eine feine Sache, wenn man schnell unterwegs sein will, aber nicht unbedingt den Rundenrekord auf der Nordschleife brechen möchte. Und, diese Automatik passt zum ganzen, stolze 483 cm langen Auto. Auch der Motor ist kein Sporttriebwerk, sondern der eines edlen GranTurismo. Druck in allen Lebenslagen, doch den echten Kick, den ein Sportwagen bietet – den gibt’s auch nicht gegen Aufpreis. Vielleicht besser so, denn das Fahrzeug mit der gutmütigen, eher weichen Fahrwerksabstimmung hätte mit einem Kimi Räikkönen am Steuer sicher seine liebe Mühe. Zumal: wenn man schon Schaltpaddel am Lenkrad hat, möchte man sie auch nutzen können. Natürlich kann man das auch, nur, dem Stinger fehlt eine Stellung am Automatikwählhebel, der die Gangwahl ganz in die Hände des Fahrers legt. Man kann also sehr wohl einen Gang für die nächste Kurve vorwählen, dauert es aber zu lange, bis man wieder einen Impuls über die Schaltwippen gibt, schaltet das System wieder auf Automatik – meist natürlich im dümmsten Moment. GranTurismo in Ehren, aber eine echte manuelle Wahlmöglichkeit wäre doch fein gewesen. (Wird es übrigens geben, auch ein Sport-Auspuff kommt dazu.)
Nein, der Stinger fühlt sich trotzdem nicht schwammig oder pampig an, das passt schon sehr gut zusammen. Aber der Kia ist trotz der 370 PS kein Sportwagen – und will es laut den Koreanern auch gar nicht sein. Auf Anhieb fallen mir als Konkurrenten mit ähnlichen Eigenschaften die zahllosen Modelle der Nissan-Edelmarke Infiniti ein. Deren bescheidenen Verkaufserfolg in der Schweiz dürfte der Stinger allerdings locker überflügeln. Denn: der Kia kann sehr viel. Und er kann auch zügig – wenn man sich vor seinem Durst nicht fürchtet. Denn 370 PS kombiniert mit fast zwei Tonnen Gewicht und zwei mächtigen Turboladern – da geht unter zehn Litern pro 100 Kilometer aber gar nix. Im Schnitt waren es bei sehr winterlichen Temperaturen 11,3 Liter. In der heutigen Zeit nicht gerade wenig.
Die Innenausstattung ist tadellos, Verarbeitung und Materialien sind durchaus edel. Schön auch, wie aufgeräumt das Ganze daherkommt. Nein, er ist nicht ganz so edel wie ein Audi, aber er kostet auch nur rund die Hälfte eines ähnlich potenten und ausgestatteten Ingoldstädters. Allein die Serienausstattung des Kia überfordert nahezu jeden Drucker, der die Aufpreislisten europäischer Hersteller ausspucken soll. Neben dem ganzen Fahrassistenzgedöns gibt’s beheizte und belüftete Ledersitze, ein feines, aber nicht vollendetes Soundsystem, ein sehr schnell reagierendes Navi, das ausserdem extrem einfach zu bedienen ist, und zahllose weitere Gadgets. Entsprechend gibt es für den 3,3-Liter-Stinger (bis auf die Metalliclackierung) keine Optionen. Ach doch, da ist noch was: wenn man für einen Kia – ist er auch noch so fein – 59’200 Franken aufruft, sollten die 43 Franken für zwei Pannenwesten, Pannendreieck und eine Bordapotheke eigentlich inkludiert sein. Wir haben uns mal einen Audi A6 als Referenz genommen. Klar, der hat vier Ringe auf der Haube, aber dennoch ist das Resultat nicht überraschend, sollte potentiellen Käufern aber zu denken geben. Der Audi A7 mit 340 PS, Allrad in der Basisausstattung kostet schon mal schlappe 87’550 Franken. Für das Infotainmentsystem mit Head-up-Display alleine will man in Ingoldstadt über 4000 Franken haben. Oder über 2000 Franken für das Glasdach. Alles Dinge, die beim Kia automatisch an Bord sind.
Also, beim Stinger passt innen wie aussen vieles zusammen. Die Reaktion der Passanten ist entsprechend. Die leicht aggressiv wirkende Front, die coupehafte Linie – das bringt so manchen ins Grübeln. Ich habe mir den Spass gemacht und die Embleme abgeklebt und das Auto einigen Freunden gezeigt – die Brandbreite der Mutmassungen war riesig. Vor allem Autos mit Stern sahen viele im Stinger, aber auch BMW und Audi wurden genannt – das haben die Koreaner sehr viel richtig gemacht. Leider, leider gibt es ob all der Optik auch einen Nachteil. Der Kia Stinger ist das wohl unübersichtlichste Automobil, dass ich in den vergangenen 28 Jahren bewegt habe. Man sieht eigentlich – nichts. Egal zur Seite, schräg nach hinten oder ganz nach hinten – man ist in seiner motorisierten Schiessscharte und freut sich über die Mithilfe der Rückfahrkamera. Auch das Platzangebot ist, zumindest im Fond, für ein so grosses Auto nicht überragend. Aber wer achtet heute schon noch auf solche Sachen? In den Kofferraum passen minimal etwas über 400 Liter – also, eine Reislimousine ist der Koreaner ganz sicher nicht. Ja, und gerade ein Leichtgewicht ist der Allradler auch nicht. Gute 1,9 Tonnen bringt er nach EC-Norm (also mit 75 kg schwerem Fahrer) auf die Waage. Bei einem so massiven Fahrzeug hätten wir uns schöner schliessende Türen gewünscht – oder auch etwas mehr Kopffreiheit im Fond. Aber, wer Design will, muss halt bei anderen Sachen seine Abstriche machen.
Wir bedanken uns bei Markus Chalilow für diesen Test. Mehr Kia haben wir in unserem Archiv.
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