Studebaker Avanti
Schräger Vogel
Während die Corvette von Chevrolet in der Schweiz eine beachtliche Verbreitung fand, kamen nur ein paar Dutzend Studebaker Avanti über den Zürcher Importeur Binelli & Ehrsam in unser Land. Der zweifellos berühmteste Schweizer Avanti-Besitzer war der Kunstmaler Hans Erni; den gelernten Grafiker konnte man noch in weit fortgeschrittenem Alter am Lenkrad seines mausgrauen Avanti auf unseren Strassen antreffen. Wer heute einen Avanti sucht und ein bisschen Auswahl haben möchte, sieht sich am besten in den USA um; hierzulande gab es jahrelang schlicht und einfach keinen Markt dafür. Das hier abgebildete Modell (zu kaufen gewesen einst in der Oldtimer-Galerie Toffen) ist die Ausnahme von der Regel: Ein Modell 1963, handgeschaltet, ohne Kompressor (dazu später mehr), sehr guter Zustand. Nicht original ist das Lochspeichen-Lenkrad, und auch die Doppelscheinwerfer gab es in dieser Form nicht: Bis kurz vor Produktionsende besass der Avanti lupenreine Rundscheinwerfer, die letzten 1964er-Exemplare wurden – ebenso wie der spätere Avanti II – mit Rundscheinwerfern in eckigen Einfassungen auf den Zeitgeist getrimmt. Das Vieraugengesicht wurde dem damals neuen Wagen durch die Garage Dietrich in Basel appliziert.
Aber ob Doppelscheinwerfer oder nicht: Das ganz und gar ungewöhnliche Design des Avanti mit seinem Gemisch von runden und eckigen Formen gab schon von allem Anfang an zu reden. Noch nie zuvor hatte es ein Auto gegeben, das so augenfällig keinen Kühllufteinlass besass (tatsächlich gab es natürlich einen, aber unter der Stossstange und fast völlig flach, was mitverantwortlich gewesen sein mag für die notorische Hitzeanfälligkeit des Motors), noch nie hatte jemand eine Karosserie durch Einzug der Flanken einer Cola-Flasche nachempfunden, noch nicht gefasst waren die Kunden auf Designelemente, die heute üblich sind, etwa die ausgeprägte Keilform oder das grosse Heckfenster. Ohne Frage ein Design, das polarisierte. Aber auch wenn es nicht zu den Entwürfen gehört, das gleich von Anfang an everybodys Darling ist, so gehört es doch zu den Langlebigsten: Noch im Jahre 2005 entstand eine modernisierte, aber in den Grundmerkmalen kaum veränderte, durchaus sehenswerte Version, und das ist fast ein halbes Jahrhundert nach der Lancierung des Ur-Avanti doch alles andere als selbstverständlich.
Jedes Auto hat seine Schokoladeseite. Für den Chronisten ist das diskussionslos der Anblick von schräg hinten, und damit hat es seine besondere Bewandtnis: An einem Tag im Jahre 1964 schnürte er in Zürich im Alfa Romeo 2600 Sprint Coupé seines Vaters Richtung Milchbuck hoch, als plötzlich ein schwarzer Avanti an ihm vorbeidonnerte; der Anblick des hohen Hecks, der geschwungenen hinteren Kotflügel und der armdicken, schwarz rauchenden Auspuffrohre hat ihn so fasziniert, dass er sich schwor, sich irgendwann einmal ein solches Teil zuzulegen. Und das dann auch wirklich tat.
Entstanden ist der Avanti – diesen Teil der Historie kennt jeder halbwegs bewanderte Fan – im Frühling 1961 unter der Leitung des französischen Industriedesigners Raymond Loewy. In nur gerade sechs Wochen realisierte das nur aus einer Handvoll Leute bestehende Team in der Abgeschiedenheit einer Villa in Palm Springs, Kalifornien, ein 1:1-Tonmodell, das von der Studebaker-Führungsriege unter Sherwood Egbert mit Begeisterung aufgenommen wurde. Übrigens: Loewy wird oft und gerne als Erfinder der Coca-Cola-Flasche und der Shell-Muschel bezeichnet, aber in der Tat hat er nur die sehr viel älteren Originale einem Redesign unterzogen. Wieviel vom Avanti-Design tatsächlich von ihm selbst stammt, ist umstritten.
Die Aufgabe war, ein vierplätziges Sportcoupé zu entwickeln, das es mit der Corvette und mit europäischen Prestigesportwagen aufnehmen konnte. Grosse Stückzahlen waren nicht das Ziel, der neue Wagen sollte vor allem ein Imageträger für Stubebaker werden. Deshalb drängte sich eine Kunststoffkarosserie à la Corvette geradezu auf; das ersparte die immensen Werkzeugkosten für Blechpressen. Aufgesetzt wurde die Karosserie auf ein modifiziertes Chassis des Lark, eines der ersten amerikanischen «Compact-Cars», wobei X-Verstrebungen zur Verbesserung der Verwindungssteifigkeit beitragen sollten. Weil eine Polyesterkarosserie damaliger Bauweise bei einem Überschlag zusammengekracht wäre wie eine Sperrholzkiste, erhielt der Avanti als eines der ersten Autos überhaupt einen integrierten Überrollbügel aus Stahl. Technisch konnte aus Kostengründen nicht alles realisiert werden, was ursprünglich angedacht wurde, beispielsweise eine hintere Einzelradaufhängung. Aber immerhin erhielt der ursprünglich mit der Zusatzbezeichnung «GT» versehene Avanti als erster Amerikaner vordere Scheibenbremsen (Bendix/Dunlop), was damals in der Werbung gross herausgestrichen wurde. Ausserdem gab es Sicherheits-Türschlösser sowie Sicherheitsgurten – in Wagenfarbe.
Angetrieben wurde der Avanti vom hauseigenen 4,7-Liter-«Jet Thrust»-V8, und zwar in freisaugender Version (Codename: R-1) sowie mit Paxton-Supercharger (R-2). Weil anfänglich werksseitig keine Leistungsangaben gemacht wurden (da hat man wohl auf Rolls-Royce und Bentley geschielt), zirkulierten wilde PS-Angaben. Reichlich Nahrung fanden diese Spekulationen in den zahlreichen Rekordversuchen, die Rennfahrer Andy Granatelli auf den Bonneville Salt Flats mit speziell präparierten Versionen (R-3, R-5) durchführte; die dazugehörigen Fotos mit imposantem Bremsfallschirm sorgten jedenfalls beim Publikum für ehrfürchtiges Staunen.
Was die tatsächliche Leistung der Serienfahrzeuge betrifft, müssen selbst die später nachgelieferten exakten Daten (240 PS für den R-1, 290 PS für den R-2) mit Vorsicht genossen werden, handelt es sich doch dabei um amerikanische SAE-Brutto-PS. Nach heutiger Norm, so vermuten wir, kämen wohl kaum mehr als 150 bzw. 180 PS heraus. Der Chronist, jahrelang Besitzer eines R-2-Avanti, hat es in seiner Zeit bei der «Automobil Revue» genau wissen wollen und den mit Dreigang-Automatik bestückten Wagen den Strapazen einer Beschleunigungsmessung (mit dem damals legendären Peiseler-Messrad) unterzogen: Verbriefte 10 Sekunden benötigte der Kompressor-Avanti mit zwei Personen an Bord für 0-100 km/h – 180 PS dürften sich also angesichts des Gewichts von rund 1,5 Tonnen ziemlich ausgehen.
Dennoch: aus damaliger Sicht ist das Leistungsniveau mehr als beachtlich. So gesehen, nahm der Avanti eigentlich die amerikanischen «Muscle Cars» vorweg, jene starkmotorisierten Versionen von Mustang, Camaro, Challenger & Co. der späten 60er- und frühen 70er-Jahre. Auch wenn der Avanti, was das technische Layout betrifft, der europäischen Konkurrenz das Wasser nicht reichen konnte: Manche Merkmale und Ausstattungsdetails zeigen, dass Loewy und sein Team den Avanti designmässig fortschrittlich und unverwechselbar zugleich erscheinen lassen wollten. So lässt das Cockpit die Affinität Loewys zu Flugzeugen erkennen: Rot beleuchtete Instrumente (damals ein Novum), Bedienungshebel auf der Mittelkonsole, die an Schubhebel in Jets erinnern, Kippschalter im Dach. Wie ganzheitlich die Stylingidee umgesetzt wurde, zeigt die Hutze auf der Motorhaube, die ihre nahtlose Fortsetzung im Armaturenträger findet. Praktisch: eine kleine Durchreiche von der Hutablage in den Kofferraum. Und charmant: der aufklappbare Make-up-Spiegel im Handschuhfach (der Jaguar E lässt grüssen). Was man nicht unbedingt erwarten würde: auf den beiden Hintersitzen reist es sich recht kommod, die Beinfreiheit ist deutlich grösser als beispielsweise in einem Mustang. Schlanke Personen müssen zum Ein- und Aussteigen in den Fond noch nicht einmal die Vordersitzlehnen nach vorne klappen, sondern schaffen es dank den unglaublich langen Türen auch in der Direttissima.
In den USA lag der Preis des Studebaker Avanti mit 4500 Dollar um zirka 10 % über demjenigen der Corvette. Dass gleichwohl nicht mehr als 5000 Stück die Hallen in South Bend verliessen, liegt nicht nur am stark polarisierenden Design, sondern vor allem auch an den anfänglichen Lieferverzögerungen, welche wegen der lausigen Qualität der Kunststoffkarosserie in Kauf genommen mussten und die Kunden verärgerten. Als Studebaker die Herstellung der Karosserie schliesslich selber an die Hand nahm, waren zwar die Probleme weg, aber auch die Käufer. Schade für den zu früh erschienenen «Muscle Car». Das Potenzial wäre vorhanden gewesen. Das wusste nicht nur der Schweizer Hans Erni, sondern eine ganze Reihe anderer Celebrities: Frank Sinatra, Ian Fleming, Shirley Bassey oder Johnny Carson.
* Der Autor dieser Zeilen, Max Nötzli, war lange Jahre Chefredaktor der damals noch grossartigen «Automobil Revue».
Mehr schöne Amerikaner haben wir immer in unserem Archiv.
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