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Mercer Raceabout

Published in radical-mag.com

Der Bock der Böcke

Nicht schon wieder. Es knirscht so sehr, dass mir das Herz blutet, ich lasse den gefühlt etwa zwei Meter langen Schalthebel los wie eine heisse Kartoffel. Aber warum haben sie das Ding auch aussen hinbauen müssen, so weit weg von mir, dass ich mich jedes Mal aus dem Wagen beugen muss? Was zudem jedes Mal zur Folge hat, dass ich auch einen wilden Schlenker nach rechts mache. Also, nochmals: runter vom Fahrpedal (das ist jenes in der Mitte), ein heftiger Tritt auf die Kupplung, denn sonst bewegt sich das Ding keinen Millimeter (Servo-Unterstützung – was ist das?), dann wieder der Griff nach draussen, wo ist das blöde Teil, ah, da. Ich müsse es hören, sagt mein Fahrlehrer, der Besitzer des Wagens, und gleichzeitig spüren, da sei ein Punkt, an dem kaum Widerstand ist – und dann das Ding mit Kraft reinziehen. Und dann bin ich plötzlich Boris Becker («ich bin drin»), ist ja alles kein Problem, die Kupplung sanft kommen lassen (sehr lustig, bei etwa zwei Tonnen Gegendruck…), wieder aufs Fahrpedal, langsam, sanft. Geht doch.

Die Beherrschung eines Vor-Vorkriegs-Rennwagens ist so etwas wie der Ritterschlag für einen jeden Automobilisten. Es braucht: viel Kraft. Das Lenkrad macht im Stillstand keine Bewegung, die Kupplung funktioniert wie schon erwähnt binär, eine feine Dosierung der Bremse ist quasi unmöglich, weil es eh nicht so gut bremst und das Pedal nur mit Elefantenfüssen in Bewegung zu bringen ist; alles ist bretterhart und unbequem. Einen Wetter- oder gar Regenschutz gibt es nicht, Karosserieaufbauten wurden damals nur von Nasenbohrern bestellt. Kein Holz/Alu/Blech bedeutet auch kein zusätzliches Gewicht, Aerodynamik war damals noch ebenso sehr ein Fremdwort wie Ergonomie. Aber wenn man es dann schafft, ein paar Mal hintereinander ohne das ganz üble Knirschen vom 2. in den 3. Gang zu schalten sowie – als absolute Krönung – auch wieder zurück, dies dann auch noch ohne grossen Schlenker, weil man wieder das Lenkrad verrissen hat, dann, ja dann. Unvorstellbar, wie die Jungs das früher geschafft haben, 500 Meilen im Renntempo – ich bin schon schweissgebadet nach wenigen Kilometern. Ovomaltine hätte vielleicht geholfen.

Einst durfte ich in einem noch älteren Opel-Rennwagen am Klausenpass scheitern. Obwohl wir zuvor in Dudenhofen auf einer (flachen) Teststrecke ausgiebig geübt hatten, dort alles noch relativ verständlich erschien. Aber der Berg kennt halt andere Regeln, es war: schwierig. Unmöglich. Die Steigungen und Kurven vernichteten jeden Schwung – und irgendwann standen wir da, ohne Kupplung. Mit einem 3-Litre-Bentley etwas neuerer Bauart, aber immer noch mit Aussenschaltung, ging es besser, aber das war in Italien und nur geradeaus. Dieser Mercer Raceabout von 1911 nun aber, das ist der Bock der Böcke, und es ist dem Besitzer (wir zeigen hier aus Gründen der Diskretion weder Mann noch Maschine, die Photos sind also: typähnlich), der weder Material noch seine Nerven schonte, ganz herzlich zu verdanken, dass er mich so lange üben liess, bis das alles klappte. Also: so einigermassen. Wie hiess es doch damals in der Clausthaler-Werbung: Immer öfter.

Auch wenn man(n) nach solchen Erfolgserlebnissen wahrscheinlich etwas zu Glorifierungen und allenfalls auch noch Übertreibungen neigt: Der Mercer Raceabout ist das grossartigste Automobil der Welt und auch noch aller Zeiten. Es gibt ausgezeichnete Gründe, weshalb deutlich siebenstellige Beträge für diese Fahrzeuge bezahlt werden (und das weiterhin, obwohl der Markt für Vorkriegsautomobile in den vergangenen Jahren eingebrochen ist). Unter den wahrhaft ernsthaften Sammlern gilt es als ein «must», so einen amerikanischen Rennwagen in der Garage zu haben und auch bewegen zu können, denn eben: Wer dieses Vieh beherrscht, der kann alles fahren.

Doch blicken wir auch zurück. Die Familie Roebling schwamm in Geld, den Grundstein für das Vermögen hatte der aus Deutschland ausgewanderte Johann August Roebling (1806 – 1868) gelegt, der die Brooklyn Bridge in New York konstruiert sowie ein sehr gut gehendes Unternehmen für Drahtseile aufgebaut hatte. Seine Söhne Charles und Ferdinand sowie sein Enkel Washington fanden um die Jahrhundertwende ein grosses Interesse an Automobilen, sie hatten auch das nötige Spaziergeld, das sie zwischen 1906 und 1909 gerne in die Marke Roebling-Planche investierten. Es entstand damals auch ein mächtiger Rennwagen, der allerdings keinen Blumentopf gewann, also versuchte man es mit neuen Partnern und in einer alten Fabrik in Mercer County, New Jersey. Mercer war dann auch gleich der Name für das neue Unternehmen, als Chefkonstrukteur wurde ein gewisser Finley Robert Porter angestellt, der zwar schon mit 14 von der Schule abgegangen war, sich aber mit «learning by doing» einen guten Namen als Ingenieur schaffen konnte.

Das Meisterwerk von Porter war der Type 35-R Raceabout, der schon 1910 auf den Markt kam. Es mag für heutige Verhältnisse bescheiden sein, 55 PS bei einer maximalen Drehzahl von 1650/min aus einem 4,8-Liter-Reihenvierzylinder. Doch der Raceabout wog nur knapp 1,3 Tonnen, war mit seinem Radstand von 2,7 Metern auch deutlich kleiner als die meisten seiner Konkurrenten – und mit einer Höchstgeschwindigkeit von etwa 150 km/h doch sehr schnell. «Safely and consistenly» waren gemäss Prospekt Reisegeschwindigkeiten von 70 Meilen möglich. Der Mercer gewann 1911 fünf von sechs Rennen, bei denen er antrat – einzig bei der ersten Austragung der «Indy 500» reichte es nur auf den 12. und 14. Platz. Ein Jahr später schaffte es ein Mercer (Hughie Hughes) auf das Podium in Indianapolis, 1913 wurde sogar ein 2. Rang erreicht (Spencer Wishart). Doch ansonsten gewannen die Raceabout bis 1914, als sich das Unternehmen nach einem tödlichen Unfall vom Motorsport zurückzog, so ziemlich alles, was es an Rennen in den USA zu gewinnen gab.

Mit einem Preis von 2250 Dollar war der Raceabout auch ganz vernünftig eingepreist. So gut, dass sich einige jüngere, vermögende Herren das Vergnügen leisteten – und mit dem Mercer die Strassen von New York (und noch lieber den Hamptons) und Hollywood unsicher machten. Diese wilden Kerle trugen auch ihren Teil dazu bei, dass der Raceabout berühmt wurde – wenn auch vielleicht nicht immer nur im positiven Sinn. Unschöne Berühmtheit hatte die Marke schon 1912 erlangt, als Geschäftsführer Washington A. Roebling mit der «Titanic» unterging. 1914 verliess Porter Mercer, danach ging es nur noch bergab, zwar kam mit dem 22/0 noch ein viel stärkeres Modell auf den Markt, doch die Ausstrahlung des Raceabout hatte er nicht mehr. 1918 war dann schon: fertig.

Was auch schön ist, dass man dann, wenn man dann einmal drei, vier Kurven umrundet hat und ein paar Mal geschaltet und so langsam mutiger wird, das Gefühl hat, sich bald für Indianapolis qualifizeren zu können und auf den Tacho schaut: 40 Meilen. Das sind knapp mehr als 60 km/h. Aber es fühlt sich an wie 200, mindestens. Was sicher auch daran liegt, dass man halt voll im Wind sitzt. Und der Mercer einen unglaublichen Lärm macht, nicht nur Motor- und Auspuffgeräusche, alles vibriert und knarrt und zerrt und tut. 40 Meilen, das ist fies, das darf man ja gar niemandem erzählen. Etwas später zittert sich die Nadel des Tacho dann doch noch auf über 50 Meilen, aber, Himmel, das ist ein Orkan und, Himmel, das mit den Bremsen ist ja auch so eine Sache. Nach Auskunft des Besitzers ist das viel, viel besser als bei anderen Fahrzeugen, die auch schon mehr als 100 Jahre auf dem Buckel haben, doch wenn man dann mit 80 km/h mal drauftritt, dann passiert lange irgendwie nichts – und später auch nicht viel mehr. Was dann wieder zu erhöhtem Pulsschlag führt. Und einem weiteren Kraftakt um die nächste Biegung. Und reichlich Adrenalin. Wahnsinn. Grossartig. Danke.

Weitere Exoten und schöne Klassiker finden sich in unserem Archiv.

Der Beitrag Mercer Raceabout erschien zuerst auf radicalmag.