Mercedes 450 SEL 6.9
Drüberflieger
Der Schock der Ölkrise zu Beginn der 1970er Jahre sitzt tief. Sie sorgt dafür, dass ein einzigartiges Modell von Mercedes-Benz später als geplant auf den Markt kommt: der Typ 450 SEL 6.9 der S-Klasse Baureihe W 116. Denn ein Motor mit 6,9 Liter Hubraum gilt, gelinde gesagt, als schwer verkäuflich. Doch dann wagen es die Strategen doch und präsentieren das Auto mit rund anderthalb Jahren Verspätung im Mai 1975 der Öffentlichkeit – die gleich von dem Fahrzeug eingenommen ist. Die Schweizer «Automobil Revue» schreibt: «Es ist höchst erfreulich, dass gerade in der heutigen Zeit ein Auto erscheint, das allerhöchsten Fahrgenuss für den Kenner – und zwar bei jedem Tempo – bietet. Der 6.9 zeugt nicht nur vom Zukunftsoptimismus, zu dem sich seine Verantwortlichen bekennen, sondern auch von der Zivilcourage.»
Es betört zum einen mit seinen Leistungsdaten: 286 PS entwickelt das gewaltige Aggregat bei 4250/min, das höchste Drehmoment beträgt 56 mkg bei 3000/min. Das sorgt für Fahrleistungen auf bestem Sportwagen-Niveau. Die 100-km/h-Marke erreicht die Limousine in 7,4 Sekunden. Als Höchstgeschwindigkeit sind 225 km/h angegeben, doch Fachzeitschriften messen meist ein höheres mögliches Tempo. «auto, motor und sport» schreibt: «Bei den Messungen, die auto motor und sport mit dieser stärksten deutschen Limousine durchführte, ergaben sich für die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h 8,2 Sekunden, für den Kilometer mit stehendem Start wurden 28,8 Sekunden benötigt, und als Höchstgeschwindigkeit registrierten die Stoppuhren 234 km/h. Sind diese Werte für sich schon höchst bemerkenswert, so erst recht die Art und Weise, wie sie im perfekten Zusammenspiel von Motor und automatischem Getriebe zustande kommen. Trotz der Schwere des Fahrzeugs sorgt die unbändige Kraft des gleichermassen leisen wie geschmeidigen Triebwerks für ein Höchstmass an Antriebskomfort und Fahrgenuss.» Durchaus ist es aber auch die Art der Kraftentfaltung, die den Motor so aussergewöhnlich macht – das stets zur Verfügung stehende Antriebsmoment sorgt für eine sanfte oder vehemente Gangart, ganz nach Belieben.
Zum anderen betört der 450 SEL 6.9 mit einer Fahrkultur, die gleichfalls auf höchstem Niveau liegt. Schliesslich ist er der nobelste Vertreter der Mercedes-Benz S-Klasse der 1970er Jahre – Adel verpflichtet, könnte man sagen. Im Innenraum umfängt der dezente Luxus der automobilen Oberklasse, wobei beispielsweise Ledersitze extra geordert werden müssen, Standardbezugsstoff ist hochwertiger Velours. Gern wird das Modell als Chauffeurlimousine geordert, und entsprechend viel Wert wird auf ein Fahrzeugfond mit grosser Bequemlichkeit gelegt: Als Option sind dort elektrisch verstellbare Sitze verfügbar oder auch eine Sitzheizung. Leseleuchten in der hintersten Dachsäule sorgen für Licht beim Aktenstudium auf langer Fahrt – oder beim entspannenden Schmökern nach einem langen Arbeitstag. Wobei auch die Person am Volant keinesfalls darben muss, auch dort ist man mit hohem Komfort unterwegs. Hinzu kommt eine Ergonomie im Cockpit, die Massstäbe setzt. Alle Passagiere kommen in den Genuss der serienmässigen Hydropneumatik-Federung mit Niveauregulierung. Der viel zitierte Vergleich mit einer Sänfte sei ausnahmsweise gestattet: Komfortabler kann man auf der Strasse kaum unterwegs sein, und dass auch noch bei hohem Tempo.
Auf der Optionsliste befindet sich auch ein Posten, der in den 1970er Jahren noch von hoher Seltenheit ist, aber bei Mercedes-Benz selbstverständlich zu ordern ist: ein Autotelefon. Es kostet rund 18 000 Mark – für das gleiche Geld sind zwei Kleinwagen erhältlich. Soviel Angenehmes kommt nicht von Ungefähr. Denn die Gene des 450 SEL 6.9 stammen teilweise vom Typ 600 (W 100) – ein Teil dessen Technik auf höchstem Niveau steht für das Topmodell der S-Klasse zur Verfügung. Vom Typ 600 stammt auch der mächtige V8-Motor. Allerdings ist er deutlich überarbeitet: Für ein Leistungsplus sorgt vor allem der vergrösserte Hubraum, eine neue Motorsteuerung kommt zum Einsatz, das Aggregat ist auf die effektivere Trocken Trockensumpfschmierung umgestellt.
Als Kraftwandler wird ein dreistufiges Automatikgetriebe verwendet, das in den zeitgenössischen Autotests stets Bestnoten bekommt. Seine Charakteristik passt zu dem starken Motor: Bei Bedarf ist vorzügliche Beschleunigung abrufbar, aber ruhiges Gleiten zählt sicherlich auch zu den Paradedisziplinen des 450 SEL 6.9. Schliesslich wird er von seinen Käufern häufig auf langen Strecken eingesetzt. Für eine grosse Reichweite sorgt ein 96-Liter-Tank. Von 1978 an ist der 6.9er auch mit einem Antiblockiersystem (ABS) erhältlich – dieses Sicherheitssystem feiert seinen Serieneinsatz in der Mercedes-Benz S-Klasse und lässt die Baureihe erneut ganz vorn stehen.
Der 450 SEL 6.9 kostet 69’930 Mark nach dem Debüt im Jahr 1975. Das letzte Modelljahr 1979 ist für 81’247 Mark erhältlich. Keine geringen Summen. Und doch wird der Mut der Mercedes-Benz-Strategen belohnt, das Fahrzeug auf den Markt gebracht zu haben. Insgesamt werden bis 1980 genau 7380 Stück gebaut, ein Grossteil davon gelangt in die USA. Das sieht auf den ersten Blick nach nicht sehr viel aus, doch das Fahrzeug bewegt sich schliesslich im absoluten Luxus-Segment, und da stehen die Produktionszahlen in einem anderen Licht. Und schliesslich gibt es ja noch die anderen Modelle der S-Klasse. Gekauft wird der 6.9er mit seinem formidablen Motor von Politikern, Wirtschaftslenkern und Showgrössen auf der ganzen Welt. Nicht wenige davon wünschen zwar höchsten Luxus, doch tragen sie den Pelz gern nach innen, denn bei vielen 450 SEL 6.9 wurde die Sonderausstattung Nummer 261 geordert: Wegfall der Hubraumbezeichnung auf dem Kofferraumdeckel – und schon ist das Fahrzeug nur für Eingeweihte anhand der breiten Reifen und der dickeren Auspuffendrohre als das Topmodell der S-Klasse erkennbar. Manchmal sind es halt die feinen Nuancen, die Luxus ausmachen.
Wir zeigen hier noch eine US-Ausführung aus dem Jahr 1979; so richtig wertvoll sind diese Sterne (noch) nicht, dieser Wagen wurde für knapp über 60’000 Dollar von RM Sotheby’s verkauft.
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