Volvo DriveMe
Irren ist menschlich
Wenn im kommenden Herbst die ersten schwedischen Familien im Rahmen des Volvo-DriveMe-Projekts in autonom fahrenden Volvo XC90 auf die Strassen rund um Göteborg geschickt werden, werden sieben Kameras auf die Insassen gerichtet sein. Sie werden jede Bewegung, jedes Augenzucken, jede ungewöhnliche Handlung des Fahrers und auch der Passagiere direkt in das Forschungszentrum von Volvo übertragen. Dort wird unter anderem Trent Victor, Senior Technical Leader Crash Avoidance, das Verhalten der Menschen im Auto genau studieren. Der Kanadier, studierter Psychologe, wird sich aber nicht dafür interessieren, was die Familienmitglieder so plaudern, sondern einzig und allein dafür, wie sie auf ihren selbstfahrenden Volvo reagieren. Was sie freut, was sie ärgert – und vor allem: was sie in Stress-Situationen bringt.
Volvo bietet bereits jetzt semi-autonom bewegende Fahrzeuge an, die Produkte der SPA-Reihe (S90, V90, XC90) können auf Autobahnen so einigermassen selbständig fahren, sogar überholen. Die Fahrerin, der Pilot muss dabei zwar die Hände am Lenkrad haben, doch die schwedischen Fahrzeuge können tatsächlich so einiges auch ganz allein. Der nächste Schritt ist nun das «DriveMe»-Programm, in dem ausgesuchte Familien vorerst nur in XC90 und nur im engeren Umkreis von Göteburg tatsächlich chauffiert werden. Mit insgesamt 100 Fahrzeugen will Volvo das eigene Projekt begleiten; sie sollen alles können, was ein Auto im Pendler-Verkehr können muss – und am eingegebenen Ziel parkieren sie dann auch noch selbständig.
Die Schweden gehen bei ihren Projekt einen anderen Weg als alle anderen Anbieter. Die deutschen Hersteller entwickeln ihre Software zusammen mit den bekannten Zulieferern wie Bosch oder Schaeffler im stillen Kämmerlein, testen heimlich – und sind, wie es heisst, kurz vor dem Ziel. Die Frage müsste sein, was denn ihr Ziel ist, teilautomatisiert, hochautomatisiert oder gar vollautomatisiert. Zum letzterem, also dem vollkommen autonomen Fahren ohne Eingriff eines Fahrers, wollen Mercedes, Audi & Co. allerdings noch keinen Zeitplan aufstellen.
Tesla geht einen komplett anderen Weg, die Entwicklung ist fortlaufend – und die Kunden werden quasi als «Versuchskaninchen» gebraucht. Bei den quasi wöchentlichen Up-Dates der Software werden nicht nur die neusten Entwicklungen in die Fahrzeuge hochgeladen, sondern auch auch die «Erfahrungen» zurück übermittelt. So kann Tesla direkt auf der Strasse testen, wie die Bedürfnisse der Besitzer sind, wo allfällige Fehler liegen, wie die Systeme überhaupt verwendet werden. Der Vorteil: Tesla kommt sehr einfach an die wirklich relevanten Daten aus dem Alltag der Besitzer, und das erst noch in grossen Mengen. Der Nachteil: man will sich gar nicht erst ausrechnen, was passieren könnte, wenn die Systeme nicht sauber programmiert sind – oder gar versagen. In den USA könnte das den Ruin eines Unternehmens bedeuten.
Im Gegensatz zu allen anderen Herstellern übernimmt Volvo nun aber die volle Verantwortung über seine Fahrzeuge. Und das ist ein wichtiger Punkt. Während sich Tesla, Mercedes & Co. derzeit noch komplett bedeckt halten, wenn es um allfällige Haftpflichtfragen geht, haben die Schweden angekündigt, dass sie so viel Vertrauen in ihre Hard- und Software haben, dass sie auch dafür geradestehen können. Das sind grosse Worte – aber Volvo will ja auch bis spätestens 2020 erreichen, dass niemand mehr in einem (neuen) Volvo bei einem Unfall sterben muss. Selbstverständlich helfen dabei die schon sehr hohen Sicherheitsstandards der schwedischen Automobile, doch um dieses Ziel wirklich erreichen zu können, braucht es noch weit mehr als Unmengen von Airbags und elektronischen Assistenzsystemen. Das weiss auch Trent Victor: «Wir sind seit vielen Jahren daran, sämtliche Unfälle auf den schwedischen Strassen mit unseren eigenen Teams auszuwerten – und wissen deshalb sehr genau, wo die Schwachstellen liegen.»
Und das ist eigentlich fast immer: der Mensch. Zu schnell, betrunken, überfordert, abgelenkt. Auch die Strassen- und Wetterverhältnisse haben einen Einfluss, Schnee, Eis, Nebel, starker Regen. Wenn das Automobil nun aber selber fährt, dann wird es die Geschwindigkeit jederzeit anpassen – und betrunken sind Computer nie. Je höher die Automatisierung ist, desto mehr Fehlerquellen könnten – theoretisch – ausgeschaltet werden. Und genau hier setzt nun das Projekt «DriveMe» an: die Psychologen im Volvo-Team wollen genau beobachten, was die Insassen machen, wenn ihnen die Verantwortung des Selbstfahrens abgenommen werden. Greifen sie, zum Beispiel, trotzdem noch ein, wenn sie eine Situation als gefährlich erachten – oder vertrauen sie den Rechenmaschinen? Und: was braucht, damit sie ihnen vollkommen vertrauen?
Auch Trent Victor ist klar, dass jeder Mensch anders reagiert, da sind die coolen Mütter, die ihre Söhne zum Fussball fahren, da sind die hysterischen Geschäftsmänner, die es immer eilig haben, da sind ältere Menschen, die volles Vertrauen in die moderne Technik haben, das sind junge Leute, die sich nicht vorstellen können, dass so etwas überhaupt funktionieren könnte. Aber gerade das, sagt Victor, mache die Versuchsanordnung ja so spannend, denn: «Es muss ja immer funktionieren – für alle, zu jeder Tageszeit, bei jedem Wetter. Und je mehr Daten wir haben, desto genauer können wir die Reaktionen der Menschen berechnen.» Sind da 100 Autos nicht zu wenig? Victor: «Es ist ein guter Anfang – und so bald wir es für richtig erachten, werden wir das Projekt ausbauen. Es folgen die USA und China, wo wir völlig andere Begebenheiten als in Schweden vorfinden werden.»
Eingebunden in das Projekt «DriveMe» sind selbstverständlich auch Software-Entwickler, Zulieferer – und der schwedische Staat über Trafikverket, das Transport-Ministerium. Dort ist Anders Lie für die Zusammenarbeit mit Volvo zuständig – und er beobachtet die Entwicklungen mit grossem Interesse. «Für uns sind viele Komponenten dieses Projekts spannend», sagt der Verkehrsexperte, «es muss oberste Priorität sein, so viele Unfälle wie möglich zu verhindern. Aber es geht uns natürlich auch darum, den Verkehrsfluss zu verbessern – und die Emissionen zu verringern». Und wie ist die Zusammenarbeit mit dem Automobil-Hersteller? «Bestens», erzählt Lie, «auch wenn wir uns etwas gewundert haben, dass Volvo auf keinen unserer Vorschläge eingehen wollte. Wir hätten Extra-Spuren einrichten können, oder auch so etwas wie eine Magnet-Schiene, welche die Autos leiten könnte, doch Volvo will seine Fahrzeuge im ganz normalen Verkehr einsetzen». Müssten denn die Strassen umgebaut werden, wenn ganz viele autonome Fahrzeuge unterwegs sind? «Nein, das ist nicht nötig», meint Lie, «die autonomen Autos fahren viel präziser, weichen nicht von der Spur ab, machen keine unnötigen Manöver. Was es aber wohl geben wird, sind Geschwindigkeitsanpassungen – nach unten».
Mehr Volvo haben wir in unserem Archiv. «radical» hat diesen Artikel für 20minuten.ch erarbeitet – und möchte hiermit eine Diskussion zum autonomen Fahren eröffnen. Wie sehen das denn unsere Leserinnen und Leser? Kommt das? Braucht es das? Würden Sie an einem Projekt wie «DriveMe» mitmachen wollen?
Der Beitrag Volvo DriveMe erschien zuerst auf radicalmag.