Fahrbericht Maserati MC20
Die ganz feine Klinge
Und dann hauen die so ein Ding raus. Quasi aus dem Nichts. Gut, vor genau 50 Jahren hat Maserati schon einmal Mittelmotor-Sportwagen gebaut, den Bora und den Merak, aber erstens ist das lange her und zweitens alles andere als ein Erfolg. Ja, mit dem Alfa Romeo 4C haben die Modenesen in den letzten Jahren Erfahrungen sammeln können, vor allem mit dem Carbon-Monocoque, doch das war eine Auftragsarbeit, nicht ein eigenes Produkt. Jetzt, mit dem MC20, bricht ein komplett neues Zeitalter an. Und das auf ganz vielen unterschiedlichen Ebenen.
Dort in den Hügeln südlich von Modena, da sind die Strassen eng. Teilweise sehr kurvig, wunderbare Serpentinen schlängeln sich den Berg hoch. Und folglich auch wieder runter. Der Verkehr ist mässig, die Qualität der Strassen ebenfalls. In manchen Schlaglöchern könnte man gut auch einen Maserati Levante verstecken, noch übler sind die Strassen-Brüche, die sind manchmal wie Treppen-Absätze. Nur schon einen ausgelutschten Fiat Ritmo Diesel einigermassen flott über diese Gassen zu bewegen, schmerzt bis tief ins Herz.
Doch diese miserablen Strassen südlich von Modena (und auch Bologna, dort testet Lamborghini) sind auch die Erklärung für ein Phänomen: die Geschmeidigkeit. Die Leichtfüssigkeit, die den italienischen Sportwagen eigen ist. Während es rund um Weissach zwar auch nette Kurven gibt, so ist dort der Bodenbelag so zart wie eine Babywindel. Schon eine zufällig aus dem Wagen gefallene Zigaretten-Kippe (filterlos) ist ein gröberes Hindernis, das man umfahren wird. Schlaglöcher: nie. Querfugen: höchst selten. Und deshalb ist ein Porsche das sprichwörtliche Brett. Und der Maserati MC20 im Vergleich dazu butterweich. Klar, das ist alles relativ, so ein kompaktes SUV aus dem Norden Deutschlands oder der Mitte Frankreichs wankt und eiert und tut ganz anders. Beim neuen Maserati MC20 ist es halt irgendwie: perfekt. Er tut zwar keinen Wank, auch bei sehr, sehr hohen Kurvengeschwindigkeiten nicht – und ist doch komfortabel. Geschmeidig, wie schon erwähnt, genau dieses: leichtfüssig.
Was unter anderem am Gewicht liegt. Carbon-Monocoque, wir hatten es schon erwähnt, wird von Dallara angeliefert, wo man gleiches ja für mehrere Hersteller in den Backofen schiebt, unter anderem für den Bugatti Chiron. Daran angebaut Hilfsrahmen aus Alu, das macht auch McLaren so, und die Engländer lehren der Konkurrenz aus Maranello, Sant’Agata und Weissach heftig das Fürchten, was unter anderem am Gewicht liegt. Beim MC20 sind es offiziell 1470 Kilo, das ist leichter als der leichteste 911er. Aber man weiss ja auch von anderen italienischen Herstellern, wie sie solches messen, sie lassen die Waage weg, peilen das lieber Pi x Daumen – und runden dann ab. Was auch immer die DIN-Zahl dann auch hergibt: adipös ist der neue Maserati definitiv nicht.
Es ist alles neu beim Maserati MC20, eben, er kommt quasi aus dem Nichts. Nur vier Jahre ist es her, dass man sich in Modena erste Gedanken machte – und wäre da nicht Corona gewesen, dann wäre der Italiener nach weniger als drei Jahren Entwicklungszeit fertig auf der Strasse gestanden. Das wurde deshalb möglich, weil die Möglichkeiten der virtuellen Entwicklung unterdessen ungeahnte Möglichkeiten bieten – und Maserati sie konsequent nutzt, mit dem derzeit wohl modernsten «Innovation Lab» der Auto-Industrie. Da kann alles parallel laufen, Entwicklung des Motors, Fahrwerks, der Aerodynamik – die gesammelten Daten werden im Computer gesammelt und gleich aufeinander abgestimmt. Das spart extrem viel Zeit. Und extrem viele Probefahrten. Und ist ausserdem immer wieder reproduzierbar; man wird den gleichen Fehler wahrscheinlich nicht zwei Mal machen.
Doch der MC20 ist deswegen nicht zu einem klinischen Auto geworden, ganz im Gegenteil. Ein Maserati soll innen ein gutes Raumgefühl geben, luxuriös sein, das verlangt die Tradition. Am Computer lassen sich auch noch die letzten Kubikzentimeter aus einem Modell winden, in kürzester Zeit – was beim klassischen Prototypenbau Monate in Anspruch nehmen würde. Und so ist das Raumgefühl im MC20 dann auch tatsächlich besser als bei jedem anderen Sportwagen auf diesem Niveau. Der Zugang über die Scherentüren ist sehr grosszügig, es braucht keine Turnübungen und vorheriges Aufwärmen der Gliedmassen, damit man einigermassen elegant in den Innenraum kommt (und auch wieder raus, was ja öfter das grössere Problem ist). Und dann ist da diese wunderbare Schlichtheit des Innenlebens, nur ganz wenige Schalter, ein relativ kleiner Bildschirm, die wichtigsten Angaben vor dem Lenkrad: so muss das sein in einem Sportwagen, der nicht ein rollendes Smartphone sein will, sondern in erster Linie ein Transportmittel für Fahrspass. Dass die verwendeten Materialien und die Verarbeitung auf höchstem Niveau sind, das versteht sich bei den Italienern von selbst, das können sie einfacher besser und vor allem schöner als alle andern.
Ja, wir wollen es zugeben: In unseren Träumen eines neuen Supersportwagens von Maserati haben wir ihn uns wilder, animalischer, heftiger vorgestellt. Und müssen gleichzeitig be- und erkennen, dass solches Treiben eben gar nicht zur Marke gepasst hätte, dass der ziemlich pragmatische Ansatz jener ist, den Maserati gehen muss – und will. Klar, das Design eines Mittelmotor-Fahrzeugs ist einigermassen vordefiniert, das war schon beim Bora so (dem sicher schönsten Mittelmotor-Auto der 70er Jahre), das ist jetzt nicht anders. Der MC20 kann dafür ohne jegliche aerodynamische Anbauten (Porsche, Lamborghini…) auskommen, er ist in der Schlichtheit seines Designs auch ein deutliches Statement. Und je länger man ihn betrachtet, desto mehr erfreut man sich an den Details, der so typischen Front, den stark akzentuierten vorderen Kotflügeln, den weichen Rundungen am Heck, der sehr gerade nach unten fallenden Dachlinie. Und: der MC20 sieht nicht aus wie alle anderen aktuellen Sportwagen, man wird ihn sofort erkennen. Was auch an den starken Farben liegt, hier zu sehen das Giallo Modena, ein Gelb mit einem starken Blaustich. Wir können unseren Lesern versichern: der MC20 funktioniert auch in Weiss bestens. Und kann in einem wunderbaren Blau bestellt werden.
Doch das ist ja alles nicht so wichtig, denn: 3 Liter Hubraum, Doppelturbo, 630 PS bei 7500/min, ein maximales Drehmoment von 730 Nm zwischen 3000 und 5500/min, Vorkammerzündung (die so wichtigen Details zu diesem sehr aussergewöhnlichen Motor mit der Bezeichnung «Nettuno» finden Sie: hier). Dazu: 8-Gang-Doppelkupplungsgetriebe, selbstverständlich nur Heckantrieb. In weniger als 3 Sekunden auf 100, Höchstgeschwindigkeit etwa 325 km/h.
Zuerst zuckeln wir hinter dem Photographen her quer durch die Stadt. Der Maserati macht das mit einem Lächeln, sehr entspannt, zickt nicht wie andere Sportler mit diesen Leistungsangaben. Dann im Süden, in den Hügeln, das Photo-Team riskiert sein Leben in einem Kombi, schwingt die Nadel des Tourenzählers kaum je über 2000/min, man fühlt wie in einer Luxus-Limousine, sitzt bequem, es ist angenehm ruhig, alles ist schön leichtgängig – ja, man kann sich gut vorstellen, das gleich bis Rom durchzuziehen. Und dann noch nach Palermo.
Diese Photo-Fahrten haben ja einen Vorteil: Man fährt ein halbes Dutzend Mal den gleichen Streckenabschnitt. Kann sich gediegen an die Grenzen des Fahrzeugs herantasten, noch ein bisschen mehr, noch schneller. Bloss: der MC20 macht keinen Wank da in den Kurven. Dem Fahrer ist längst der Mut ausgegangen (und wohl auch das Talent), doch gefühlt sind wir immer noch meilenweit entfernt von etwas, was die Berichterstatter zu automobilen Themata jeweils gerne als Grenzbereich beschreiben. Die Lenkung wirkt vielleicht etwas leichtgängig, doch die Präzision, vor allem die Rückmeldung von der Strasse ist grossartig. Man denkt, sieht, wo man hinwill – der Italiener ist schon da. Und wenn man dann im ersten Gang aus einer Serpentine beschleunigt, das Heck ganz sanft und mit liebevoller Vorankündigung kommt, korrigiert man irgendwie ganz automatisch mit Gegensteuer, das Leben wird zu einem langen, stillen Fluss in der Bewegung, es ist die pure Fahrfreud‘, die kaum je von der Elektronik eingebremst werden muss. Unter den bösen Sportwagen nimmt der Maserati MC20 eine Spitzenposition ein in Sachen Beherrschbarkeit.
Was sicher auch an der unglaublich linearen Kraftentfaltung des «Nettuno» liegt. Er ist nicht der Krawallbruder, er haut dann auch nicht irgendwo bei 4000/min noch eine andere Brennstufe und einen unterschiedlichen Lärmpegel raus, sondern bleibt extrem kultiviert. Souverän. Auch wenn er bis 8000/min dreht. Da ist nicht viel Lärm um nicht viel, da ist viel mehr Sein als Schein.Mit einem Basispreis von 226’350 Franken ist der Maserati MC20 kein Schnäppchen. Und auf der Aufpreisliste hat es noch manch einen Punkt, der einem den Atem verschlägt, etwa das sehr attraktive Carbon-Kit, das einen Mittelklasse-Wagen kostet. Doch das alles ist diesem Segment kein Thema, ganz besonders dann nicht, wenn Maserati draufsteht. Sechs Autos werden in Modena derzeit pro Tag hergestellt, wer jetzt einen MC20 bestellt, muss bis Mitte 2023 darauf warten. Aber es lohnt sich auf jeden Fall. Bald fahren wir die offene Version, den Cielo.
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