Motorrad-Trends 2020
PS-Wettrüsten und preiswerte Alleskönner
Von «Motorrad-Scham» war bei den Besuchern der 17. Austragung der Swiss-Moto in Zürich Oerlikon (20. – 23. Februar 2020) nichts zu spüren sein. Ungebrochen ist in der Schweiz die Faszination für die motorisierte Freiheit auf zwei Rädern, die sich fast ausschliesslich aus Freude an der Fahrt in der Freizeit abspielt. Doch würde man im Zeitraffer das alljährliche Publikum der Swiss-Moto über die vergangenen 17 Jahre Revue passieren lassen, dann würde schnell deutlich: Es sind mehrheitlich die gleichen Motorradfans, die Jahr für Jahr nach Oerlikon pilgern, einfach immer ein bisschen älter. Oder anders gesagt: Es fehlt mittel- und definitiv langfristig der Motorrad-Nachwuchs. Die urbanen Jungen von heute setzen andere Prioritäten, sind vorzugsweise mit ÖV oder Fahrrädern unterwegs oder schnappen sich per App eines der praktischen E-Scooter. Im Vordergrund steht der möglichst unkomplizierte Transport von A nach B. So sehen auch immer mehr Jugendliche in den grossen Ballungszentren keinen Grund mehr, für viel Geld einen Fahrausweis zu erlangen, egal ob für Autos oder Motorräder. Das Durchschnittsalter eines Schweizer Kawasaki-Motorrad-Kunden liegt aktuell bei 36.7 Jahre. Und damit stehen die Vertreiber der japanischen Traditionsmarke dank einer breiten Einsteiger-Modellpalette mit gutem Preis-Leistungsverhältnis im Vergleich noch gut da. Bei Harley-Davidson oder BMW mit ihren prestigeträchtigen und entsprechend teuren, grossen Maschinen liegt das Durchschnittsalter deutlich höher. Darum legte die Swiss-Moto dieses Jahr mit der «Youth»-Sonderausstellung einen speziellen Fokus auf die neue Einsteiger-Klasse bis 125 ccm Kubik und 15 PS.
Die pfiffigen Einsteigermodelle
Nach langjährigen, zähen Verhandlung hat es die Schweizer Motorrad-Lobby nämlich tatsächlich geschafft, dass der Bundesrat per 1. Januar 2021 das Fahren von Motorrädern mit 125 ccm Kubik und maximal 11 kW (15 PS) an die EU angleicht und damit bereits ab 16 Jahren zulässt. Es soll der Weg frei gemacht werden für eine neue Generation von Motorrad-Fahrern und Fahrerinnen. Für sie steht bereits in dieser Saison bei allen grossen Herstellern, allen voran Yamaha mit der top modernen MT-125, eine bunte Palette von neuen 125er-Modellen bereit. Daneben warten aber auch die Exoten aus Fernost mit pfiffigen und vor allem auch preiswerten Modellen auf, so zum Beispiel die Rayburn 125 oder die Felsberg 125 XC im Retrolook des chinesischen Herstellers Brixton.
Die behäbigen Kolosse
Zeigten sich die Schweizer Behörden am unteren Ende der Futterkette EU-nahe, machten sie bei den Motorrad-Späteinsteigern auf schweizerisch stur. Ebenfalls ab 1. Januar 2021 können Direkteinsteiger ab 25 Jahren, anders als in der EU, nicht mehr wie heute direkt einen Lernfahrausweis für den A-Führerausweis für offene, unlimitierte Motorräder beantragen. Sie müssen ab nächstem Jahr zuerst wie alle anderen zwei Jahre lang ein Motorrad mit maximal 35 kW (48 PS) Leistung fahren. Die Zeit drängt also für gut betuchte Möchtegern-Easy-Rider im besten Alter, sich noch vor dem 31. Dezember 2020 mit dem heutigen Kategorie-A-Lernfahrausweis und entsprechendem Bike auszustatten. Da dürften insbesondere die mächtigen Modelle von Harley-Davidson wie zum Beispiel die neue Low Rider S mit ihren klassischen V2-Motor mit 1868 ccm Hubraum oder die grossen Indian-Modelle mit dem neuen 1901 ccm grossen Thunder Stroke V2-Motor in Frage kommen. Eher auf der Power-Seite angesiedelt und in sich eine eigene Kategorie ist da die Triumph Rocket 3, deren mächtiger 2,5-Liter Dreizylinder-Motor sportliche 167 PS freisetzt.
Die schnellen Rennmaschinen
Überhaupt scheinen sich die Grenzen bezüglich PS-Power immer mehr nach oben und damit endgültig jenseits jeglicher Vernunft zu verschieben. So feierte an der Swiss-Moto die Ducati Panigale V4 Superleggera Weltpremiere, die mit 234 PS Leistung bei lediglich 159 Kilogramm Gewicht neue Massstäbe setzt. Es ist das erste Serienmotorrad mit Strassenzulassung, dessen gesamte tragende Struktur aus Kohlenstofffasern gefertigt ist. Und auch sonst bringt das Modell so kompromisslos wie kein anderes Bike Moto-GP-Renntechnologie auf die Strasse. Das hat seinen Preis: Stolze 105 000 Franken kostet die Superleggera, die lediglich in einer Stückzahl von 500 Stück produziert wird und zwar in einer Kadenz von fünf pro Tag. Ab Juni sollen die ersten, bereits bestellten Modelle auch in die Schweiz ausgeliefert werden.
Für Otto-Normalfahrer sind denn auch die neuen Supersportler mit 200 plus Pferdestärken und Formel-1-Antriebe für weniger als 30 000 Franken nur noch mit viel elektronischen Helfern zu bändigen. Obwohl stückzahlenmässig immer unbedeutender bieten sich die grossen Hersteller bei diesen superschnellen Bikes mit Strassenzulassung, die mit ihren Vollverschalungen eigentlich für die Rennstrecke konzipiert wurden, ein grosses PS-Wettrennen. Jüngste Zugänge mit grossem Namen sind die neue Honda CBR 1000 RR-R Fireblade oder die Aprilia RSV4 1100 Factory, beide mit 217 PS.
Die nackten Powerpakete
In den vergangenen Jahren wurde es zudem immer mehr Mode, «böse» anmutende Modelle, abgespeckt aufs Wesentliche – also ohne jegliche Verschalung – mit Motoren der PS-gewaltigen Rennmaschine auszustatten. Viel beachteter Neuzugang in dieser Szene ist 2020 die neue Ducati Streetfighter V4 mit dem von der MotoGP abgeleiteten, 208 PS starken Motor in einem minimalistisch, futuristisch designten Naked Bike. Ebenfalls mit 208 PS, aber noch einen Zacken aggressiver kommt die MV Agusta Brutale 1000 daher. Zu dieser Kategorie gehört auch die neue Kawasaki Z H2 mit 200 PS starkem Kompressor-Motor oder die überarbeitete KTM 1290 Super Duke R mit 180 PS. Und selbst Harley-Davidson will in diesem populären Segment in Zukunft mitmischen. So bringt die Traditionsmarke aus Milwaukee im Herbst das Power-Naked-Bike Bronx mit 975 ccm-V2-Motor und für Harley-Verhältnisse erstaunlichen 115 PS Leistung auf den Markt.
Die gefragten Allrounder
Weniger spektakulär als die PS-gewaltigen Rennmaschinen und Power-Naked-Bikes, aber dafür seit Jahren umso erfolgreicher an der Verkaufsfront sind die Allrounder mit mehr oder weniger ausgeprägten Offroader-Qualitäten. Seit Jahren grosser Platzhirsch in diesem SUV-Segment mit zwei Rädern ist die BMW R 1250 GS, die aufsummiert mit dem Adventure-Sondermodell auch in der Schweiz 2019 das meistverkaufte Modell war. Es sind die an sich vernünftigen Allrounder-Qualitäten einer grossen Enduro, gepaart mit immer mehr PS, die diese Modelle so erfolgreich machen. Und natürlich ist in diesem beliebten Segment in den vergangenen Jahren die Konkurrenz immer grösser geworden. Mehr am sportlichen Ende angesiedelt ist das S 1000 XR Modell von BMW, das nun neu aufgelegt wurde. Auch stellen die Bayrischen Motorenwerke dem hochbeinigen Allrounder mit dem sportlichen Vierzylinder-Motor (165 PS) ein etwas moderateres F 900 XR-Modell mit 105 PS starkem zwei Zylindern-Motor zur Seite. Grösster Widersacher bleibt aber die Ducati Multistrada, von der es nun auch eine 1260 Grand Tour Version gibt. Und auch hier will Harley-Davidson künftig mit der neuen Pan America mit 145 PS starkem V2-Motor ein Stück von diesem begehrten Kuchen abschneiden.
Die preiswerten Bestseller
Ein Blick auf die Verkaufshitparade 2019 macht aber deutlich: Stückzahlenmässig spielt in der Schweiz die Musik bei den eher unscheinbaren Mittelklasse-Modellen, allen voran bei den MT-Modellen von Yamaha, die mit einem überzeugenden Preis-Leistungs-Verhältnis aufwarten. Auch hier gibt es in diesem Jahr interessante Neuzugänge wie die Kawasaki Z900, die BMW F 900 R, die KTM 890 R oder die tourentaugliche Yamaha Tracer 700 auf der Basis des MT-07-Bestsellers.
Die schmucken Nostalgiker
Immer noch voll im Trend liegen zudem die Retrobikes, bei denen der Fokus weniger auf dem ultimativen PS-Kick als auf dem designmässigen Zelebrieren der guten alten Zeit liegt. Einen vielsprechenden Ausblick in die Zukunft bietet diesbezüglich die R18-Konzept-Modelle von BMW, von denen es bereits zwei Ausprägungen gibt. Sie wären eine logische Ergänzung der erfolgreichen R nineT-Nostalgie-Modellreihe. Überaus erfolgreich sind in diesem Segment auch Ducati mit seiner Scrambler-Linie und Triumph unterwegs. So bietet der englischen Hersteller in diesem Jahr unter anderem eine etwas stärkere Thruxton RS-Version sowie eine Spezialversion der einsitzigen Bobber TFC, die es in einer limitierten Anzahl von 750 Exemplaren geben wird.
Die aufmüpfigen Chinesen
Eher bescheidene, wenn auch Jahr für Jahr leicht steigende Stückzahlen verzeichnen die chinesischen Hersteller. Sie versuchten sich zuerst mit kleinen Roller- und Motorradmodellen. Doch wurde schnell klar, dass die kritischen Käufer in Europa den neuen Namen aus Fernost wenig Vertrauen schenken. Darauf kauften die chinesischen Hersteller vorzugsweise altehrwürdige europäischen Marken wie Benelli oder Moto Morini, unter deren Namen sie nun deutliche erfolgreicher ihre Motorräder auf den europäischen Markt werfen können. Dabei belassen sie es aber nicht mehr nur bei den kleinen 50er- oder 125er-Modellen. Die nunmehr chinesische Marke Benelli mit italienischen Wurzeln bringt in diesem Jahr in der Mittelklasse die neue Leoncino 800 auf den Markt. Daneben lanciert Moto Morini verschiedene 650er-Modelle sowie eine Super Scrambler mit 1,2-Liter-V2-Motor. Und auch der chinesische Quad-Spezialist CF Moto überrascht mit drei Modellvarianten der zweizylindrigen 700 CL-X. Bleibt abzuwarten, ob die Rechnung der Chinesen im schwierigen Schweizer Markt aufgehen wird, wo beim Motorradfahren das Prestige immer noch eine entscheidende Rolle spielt und auch das nötige Taschengeld dafür vorhanden ist.
Wir bedanken uns bei Daniel Huber für diesen Text. Mehr Motorräder gibt es in unserem Archiv.
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