Citroën M35
Hot-Rod mit Zuckerwasser-Motörchen
Rotationskolben-Maschinen gab es schon im 16. Jahrhundert. Das Prinzip, dass sich bewegliche Teile nur um einen Schwerpunkt bewegen, wurde damals schon beim Bau von Wasserpumpen angewendet. Es sollte aber ein paar Jahrhunderte dauern, bis die ersten Motoren funktionierten. Ab 1932 wurde man auf den Namen Felix Wankel (1902-1988) aufmerksam. Wankel war ein Autodidakt und Nicht-Mathematiker, er besass wegen seiner extremen Kurzsichtigkeit auch nie die Erlaubnis, ein Auto zu steuern. Doch er hatte ein geniales räumliches Vorstellungsvermögen – und nach ersten Versuchen mit konventionellen Verbrennungsmotoren verlegte er sich schon früh auf die Rotationskolbenmotoren. 1933 erhielt er ein Patent für einen ersten Drehkolbenmotor. Das Prinzip ist relativ einfach und logisch: Anstelle von Kolben, die sich bei herkömmlichen Hubkolbenmotor auf und ab bewegen, dreht sich beim Wankelmotor eine Scheibe um eine Exzenterwelle. Damit hat das Aggregat bedeutend weniger bewegliche Teile, und es braucht auch weniger Platz. Es sind zudem keine Ventile nötig; Teile wie Nockenwelle, Stössel, Kipphebel fallen ebenfalls weg. Weitere Vorteile: Ein Wankelmotor ist perfekt auswuchtbar, was einen seidenweichen Lauf ergibt, und das Drehmoment ist gleichförmiger, weil die Taktdauer um 50% länger ist.
In Richtung Automobil konnte Wankel seine Forschungen erst ab 1951 wieder aufnehmen: Er erhielt von NSU einen Auftrag für Drehschiebersteuerungen, der kurz darauf auf Rotationskolbenmotoren erweitert wurde. Bei NSU arbeitete Wankel mit Hanns Dieter Paschke zusammen; die beiden verstanden sich nicht immer gut, doch Paschke trug entscheidend zur Entwicklung des später nach Felix Wankel benannten Motors bei. Das ging so weit, dass Paschke eigene Entwicklungen betrieb, von denen Wankel nichts wissen durfte. 1957 gelang es dem NSU-Mann, einen ersten Drehkolbenmotor nach einigen Änderungen so richtig zum Laufen zu bringen. Wankel soll zu diesem Motor, bekannt als KKM57, gesagt haben: «Sie haben aus meinem Rennpferd einen Ackergaul gemacht». Worauf der Chef von NSU, von Heydekampf, antwortete: «Hätten wir wenigstens schon einen Ackergaul».
Es dauerte noch weitere sechs Jahre und viele Millionen Entwicklungsgelder, bis im Herbst 1963 die ersten Autos mit Wankelmotor der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnten – einerseits der NSU Wankel Spider, andererseits ein Mazda mit Zweischeibenmotor. Im Herbst 1964 ging der NSU dann in Serie – viel zu früh, denn der Wankelmotor war noch längst nicht ausgereift. Mazda machte es mit seinem Cosmo Sport bedeutend besser, und deshalb geriet NSU in Zugzwang. Auch der sehr fortschrittliche NSU Ro80 wurde 1967 überhastet auf den Markt gebracht, ohne ausführliche Erprobung.
Im gleichen Jahr, im April, wurde in Luxemburg die Firma Comotor gegründet. Sie war das Nachfolgeunternehmen der ab 1964 in Genf operierenden Comobil und verfügte auch über die gleichen Geldgeber – NSU und Citroën. Das Ziel der Comotor war es, in grossem Stil Wankelmotoren zu produzieren. Dass NSU dabei war, erstaunt nicht weiter. Citroën kaufte sich keine Lizenz (im Gegensatz etwa zu Alfa Romeo, Rolls-Royce, Porsche, General Motors, Ford, Toyota, etc.), sondern verschaffte sich den Einstieg vermeintlich billiger durch das Hintertürchen der Comotor. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Projekt «Wankelmotor» trieb Citroën in den 70er-Jahren in den Ruin. NSU war das gleiche Schicksal schon früher ereilt.
Aber 1969 waren die Pläne noch grossartig. Comotor kaufte ein Gelände von 850’000 Quadratmetern, um eine neue Fabrik zu errichten, und Citroën liess bei Heuliez in Cerizay sechs Fahrzeuge bauen, die auf dem Ami 6 basierten, aber die bekannte hydropneumatische Federung sowie eine Art Coupé-Design erhielten. Der legendäre Citroën-Chefdesigner Flaminio Bertoni, der den Ami 6 als sein Meisterwerk bezeichnet hatte (und nicht den Traction Avant, nicht den 2CV, nicht die DS!), erlebte die «Umformung» nicht mehr mit – er war schon einige Jahre zuvor, am 7. Februar 1964, im Alter von 61 Jahren verstorben. Vielleicht hätte ihm das neue Design gefallen. Ein bisschen erinnert der M35 an einen amerikanischen Hot-Rod, besonders, wenn er per Druck aufs Knöpfchen ganz tief in seinen Federn kauert.
Noch spannender war aber, was unter der Motorhaube geschah. Wie der NSU Wankel Spider erhielt der Citroën, der auf den Namen M35 getauft wurde (weshalb, ist nicht mehr bekannt), einen Einscheiben-Wankelmotor. Das war 1969/70 bereits nicht mehr «state of the art» – Mazda arbeitete schon mit zwei Scheiben, Mercedes im C111 mit drei. Aus hochgerechnet 995 cm3 Hubraum (2 x 497,5 cm3) schöpfte das Motörchen bei 5500/min doch immerhin 49 PS. Bei einem Gewicht von 815 kg reichte das für eine Höchstgeschwindigkeit von 144 km/h. An dieser Zahl darf durchaus gezweifelt werden. In einem zeitgenössischen Fahrbericht wird davon berichtet, dass der kleine Wankel-Citroën auf 175 km/h gekommen sein soll. Aber Citroën-Fahrer sind ja bekannt dafür, beim Ablesen des Tacho schon immer eine gewisse Nonchalance an den Tag gelegt zu haben.
Citroën traute dem Wagen allerdings nicht besonders viel zu. Deshalb wurde auch keine Produktion aufgenommen, sondern jedes Auto von Hand gefertigt. Der Plan war, zuerst einmal 500 Exemplare auf die Strasse zu schicken und in die Hände von guten (und vor allem: loyalen) Kunden zu geben, um erste Erfahrungen zu sammeln. Das mit den 500 Kunden klappte nicht: Nur gerade 267 M35 wurden gebaut. Der Preis von 14’000 französischen Francs, fast gleich viel wie eine ID19 und mehr als Doppelte eines 2CV, dürfte das Interesse an einem bei weitem nicht ausgereiften Fahrzeug auf ein Minimum reduziert haben.
Trotzdem – innert fünf Jahren kamen über eine Million Testkilometer zusammen. 1972 hatte sich aber VW, das sich die Überreste von NSU gesichert hatte, aus der Comotor zurückgezogen, und Citroën machte mit dem Wankelmotor KKM 624, einer Weiterentwicklung des aus dem NSU Ro 80 bekannten KKM 612, einen neuen Versuch. Die GS Birotor von 1973 war 105 PS stark und überhaupt ein geniales Teil, doch extrem filigran, sehr defektanfällig. Schon nach 837 Exemplaren war endgültig Schluss mit dem Projekt Wankelmotor bei Citroën. Die Franzosen versuchten, sämtliche M35 und GS Birotor von den Kunden zurückzurufen, dies zu sehr vorteilhaften Bedingungen für die Klientel. Alle zurückgekauften Fahrzeuge wurden verschrottet. Wer sein Fahrzeug behalten wollte, musste einen Vertrag unterzeichnen, der Citroën von sämtlichen Garantieleistungen und dem Anspruch auf die Lagerung von Ersatzteilen befreite. Einige wenige GS Birotor und M35 überlebten die Rücknahmeaktion und sind heute begehrte und teure Sammlerstücke.
Wir hatten das Vergnügen mit einem M35 mit der Nummer 169, gebaut 1970, lackiert in jenem typischen Grau, in dem fast alle M35 bemalt waren (es gab zudem noch Schwarz und ein sehr bleiches Gelb). Die 169 gehört dem «Conservatoire» von Citroën, mehr eine Abstellhalle denn ein Museum (und unterdessen nicht einmal mehr das…). Der Wagen ist selbstverständlich in perfektem Zustand, wahrscheinlich besser, als die M35 je gewesen sind. Innen: ganz schlicht, wobei die Lederausstattung nicht unbedingt das liefert, was man in einem umgebauten Ami 6 erwartet. Dazu mag die aus dem 2CV bekannte Revolverschaltung auch gar nicht so recht passen. Am auffälligsten ist aber ein roter Klebstreifen, auf dem zu lesen ist, dass der Ölstand alle 250 km zu kontrollieren sei. Womit eines der grössten Probleme des M35 auf den Punkt gebracht wird.
Problemlos springt der Wankel-Citroën an. Der Leerlauf ist tatsächlich seidig, wie man das auch von modernen Rotationskolbenmotoren gewohnt ist. Und ungewöhnlich leise. Daran ändert sich auch nicht viel, wenn sich das Ding dann in Bewegung setzt: Aus dem Motorraum tönt eher ein Wimmern als Lärm – so ein bisschen erinnert es an eine kaputte Nähmaschine. Aber der Vortrieb ist erstaunlich, das Drehmoment kommt sehr linear und unangestrengt, und als wir die Schaltung dann einigermassen im Griff haben, kommt richtig Fahrfreude auf. Die Kurvenneigung ist erschreckend – man ist froh, dass man sich am Lenkrad festhalten kann. Die Reifen quietschen erbärmlich, doch wir haben Spass. Wenn bloss dieses fiese Gewimmer nicht wäre.
Genaue Zahlen zum Verbrauch mag niemand benennen, doch es werden wohl schon 13, eher 15 L/100 km gewesen sein. Der hohe Verbrauch war dann auch offiziell der Grund, weshalb die Franzosen nicht mehr am Wankelmotor weitergearbeitet haben. Die erste Ölkrise von 1973 bedeutete das Aus für den Wankel und für Comotor. Und, mehr oder minder direkt, auch für Citroën. 1976 wurde das Unternehmen von Peugeot übernommen. Und das bedeutete eine ewig lange Zwangspause für die automobile Avantgarde, die Citroën so lange perfekt verkörpert hatte – wie etwa mit dem in jeder Beziehung ungewöhnlichen M35.
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