Lebensversicherung aus 1988 mit Rückkaufswert 55.000 Euro
Während ich bei gefühlten 50°C Lufttemperatur im urinwarmen Mittelmeer schwimme, erscheint vollautomatisiert dieser Blogeintrag. Die Technik macht’s möglich! Thema dieses Artikels: nur 2500km von meinem Urlabsort entfernt - am Ratswegkreisel in Frankfurt - parkt wohl immer noch dieser besondere Mercedes-Gebrauchtwagen, Baujahr 1988, den ich im Juni irgendwann nach Feierabend ein wenig näher anschauen konnte.
Wer die 126er-Baureihe nicht so genau kennt, würde an diesem Exemplar nichts besonderes finden. Ein 500SEL, der seit vielen Wochen gut sichtbar auf dem Gelände eines Händlers für Nobelkarossen in Frankfurt steht und auf einen Käufer wartet. Für Unbedarfte ein alter “Chrombenz” eben, durchaus mit einer MENGE Chrom insbesondere um die Fenster.
Wer weiß schon so genau, wieviel Chrom da wirklich hingehört? Nicht selten haben alte S-Klassen ja auch Chrom an den Radläufen. Wer’s mag… Das Radlaufchrom, auch “Zahnspange” genannt, läßt sich vor allem dem orientalischen Kulturkreis zuordnen. Vielleicht dient die Chromsichel als muslimischer Talisman für jedes einzelne Rad: “möge der China-Pneu aus dem Resteverkauf auch noch die nächsten 500km durchhalten” oder so ähnlich.
Flachwitz beiseite: das stark verbreiterte Fensterchrom stammt natürlich vom Daimler selbst, wurde nur äußerst selten verbaut und soll vor allem den Insassen “Glück bringen”.
Es deutet auf die mit Abstand teuerste Sonderausstattung hin, die es in Stuttgart zu bestellen gibt: eine werkseitige Fahrzeugpanzerung der Widerstandsklasse B6. Wir haben es hier also mit einem Sonderschutzfahrzeug zu tun, und die dicken Chromeinfassungen um die Scheiben tragen der enormen Stärke der Mehrschichtverglasung rechnung.
Über die Herkunft des Fahrzeugs schweigt sich der Händler aus. Möglicherweise geben Indizien wie dieser Windschutzscheiben-Sticker Aufschluß über das bisherige Einsatzgebiet des Panzers:
Kaum ein Bauteil entstammt hier der Großserie, was man nicht nur - aber vor allem - an den Scheibeneinfassungen erahnen kann. Eine solche Windschutzscheibe soll im Austausch in etwa soviel kosten wie ein aktueller Mittelklassewagen. Also Augen auf beim Panzerkauf! Sind hier bereits Eintrübungen oder “Regenbogenmuster” zu sehen, befindet sich der Glasverbund bereits im Zustand der Auflösung und sündhaft teurer Reparaturbedarf kündigt sich an. Immerhin: hier ist unser 500er augenscheinlich frei von Mängeln!
Die gepanzerten Versionen des W126 wurden weitgehend in Handarbeit aufgebaut, wie diese äußerst seltene Aufnahme aus unserem privaten Archiv zeigt:
Hier geht es zu wie im Prototypenbau, und von “Fließbandarbeit” kann keine Rede sein. Die Sonderbehandlung hatte nicht nur ihren Preis, sondern vor allem ihre Weile: die letzten 126er-Panzer verließen erst im Frühling 1992 die Manufaktur, während längst schon die S-Klasse der Baureihe 140 auf Deutschlands Straßen unterwegs war.
Den 126er gab es übrigens nur in der damals höchsten Widerstandsklasse “B6″ ab Werk zu bestellen. Er hält damit neben Sprengstoff- und Brandanschlägen u.a. auch dem Beschuß mit NATO-Munition aus unmittelbarer Nähe stand.
Doch auch die beste Panzerung schützt natürlich nicht vor dem Zahn der Zeit. Besonders an den Radläufen beginnt die stolze Festung langsam aber sicher zur Ruine zu werden:
Ein ungenierter Blick unter’s Röckchen läßt erahnen, daß sich der Rostfraß auch schon im Gebälk festgesetzt hat:
Die Schwellerspitzen sind wohl auch beim B6-Panzer ein neuralgischer Punkt, ungeachtet dessen ob sie für 2 oder 4 Tonnen Gewicht ausgelegt waren. Die Flüssigkeit, die an den Bremsabstützungen herunterrinnt, ist bloß Regenwasser, das auch bei der Panzerlimousine vor der Windschutzscheibe beidseitig nach unten geleitet und an dieser Stelle außerbords geführt wird. Rostfraß wird so aber auch beim stehenden Fahrzeug weiter begünstigt, wenn der Korrosionsschutz ohnehin bereits angegriffen war.
Der Blick von vorne unter die Frontschürze. Wo sich beim Großserienfahrzeug die flache “Überlandfanfare” befindet, öffnet sich hier der Trichter einer wohl ausschließlich dem Panzer vorbehaltenen akustischen Vorfahrtregelung. Die Bedienelemente dazu nefinden sich auf der unteren Mittelkonsole:
Aus der Nähe betrachtet:
Das “Wail” (also frei übersetzt der “Heulton”) läßt sich zwischen “Yelp” (Kreischen) oder “Hi-Lo” (Hoch-Tief) umschalten. Darunter dann offenbar die Steuerung für die Warnlichter, die sich vielleicht (auch) hinter dem Kühlergehäuse befinden.
Die andere Sonderschaltergruppe befindet sich unterhalb der Wählhebelkulisse:
Die beiden großen Besonderheiten sind einerseits die auffällige “F”-Taste, die das Feuerlöschsystem des Fahrzeugs aktiviert (falls das Fahrzeug nach einem Anschlag Feuer gefangen hat), aber auch der weitaus unauffälligere Links/Rechts-Schalter neben dem Justierstick des elektrischen Außenspiegels. Denn unser Panzer hier verfügt offenbar aus Sicherheitsgründen auch fahrerseitig über einen elektrisch betätigten Spiegel:
Auf der Innenseite des Spiegeldreiecks befindet sich selbst in der vollausgestatteten S-Klasse der Achtziger Jahre immer nur ein einfacher Hebel für die manuelle Richtung des Außenspiegels. Beim Werkspanzer wäre dies im Anschlagsfall ein potentieller struktureller Schwachpunkt, daher wohl die besondere elektrische Bedienung und der entsprechende Umschalter dafür auf der unteren Mittelkonsole.
Interessant im Bild oben ist auch die sehr weit herausgestellte Holzblende und - wie auch sonst im Fahrzeug - das Fehlen sonst üblicher Annehmlichkeiten wie bspw. der elektrischen Sitzverstellung. Unser Panzer hier ist - bis auf das Leder - ein regelrechter Nullaustatter. Nicht einmal Airbags sind vorhanden:
Die Vermutung liegt nahe, daß es sich hier also nicht unbedingt um ein ehemaliges VIP-Taxi handelt, sondern viel wahrscheinlicher um ein Begleitfahrzeug für Einsatzkräfte, möglicherweise auch um einen sogenannten “Gatebreaker”. Hauptaufgabe des 500SEL könnte also die Fahrt an der Kolonnenspitze gewesen sein um etwaige Barrikaden gezielt zu durchstoßen. Ein Airbag wäre in solch einem Fahrzeug dekbar fehl am Platze.
Daß es sich bei unserer Entdeckung vom Straßenrand um einen 500er handelt, wissen wir nur durch Auskunft des Händlers. Am Wagen selbst gibt es keine Hinweise auf die genaue Motorisierung.
Die Verkaufshalle am Standort des Wagens hält übrigens noch weiteren Augenschmaus bereit. Der Händler hat sich offenbar auf den Vetrieb von gebrauchten Luxus- und Supersportwagen spezialisiert.
Vielleicht ist da auch was für Dienstwagen-Ulla dabei?
Im Netz stand der 500SEL einst für satte 55000 Euro auf den Angebotsseiten eines mittlerweile in Konkurs gegangenen Sonderschutzfahrzeuge-Händlers. Inwieweit sich ein solcher Preis auch tatsächlich erzielen läßt, steht in den Sternen. Wirklichen Wert dürfte ein solches Fahrzeug ohnehin nur für jemanden haben, der nicht den gut achtfachen Preis für ein aktuelles Modell ausgeben kann oder will. Der jetzige Händler sieht potentielle Abnehmer des Fahrzeugs daher auch am ehesten im Nahen Osten. Sammler und Liebhaber aus dem Inland wird der doch sehr verbrauchte Zustand samt notdürftig reparierter, erheblicher Unfallschäden abstoßen.
Höchstinteressant ist das Thema Sonderschutzfahrzeuge beim 126er allemal. Fuenfkommasechs.de wird deshalb nach dem Relaunch einen eigenen Themenbereich auch den “rollenden Festungen” widmen.
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