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Zurück in Nardò: der Weltrekordler 190 E 2.3-16 (W201) feiert mit seinen Schöpfern

Published in fünfkommasechs.de

Kollege Marc “Dreikommanull” Christiansen hatte pünktlich zum 30. Jahrestag der Rekordfahrt von Nardò an dieser Stelle schon die ultimative Zusammenfassung der Ereignisse vom August 1983 verfasst. Kürzlich wurde das Jubiläum aber auch von offizieller Seite noch einmal mehr als spektakulär gefeiert – und fünfkommasechs.de war dabei!

Die 4 Kilometer durchmessende Rundstrecke in Süditalien vom Satelliten aus gesehen | Quelle: Google Maps

Mitte November 2013: Mercedes-Benz-Classic lädt die Macher der Rekorde und führenden Köpfe hinter der Entwicklung der Baureihe 201 zu einem ganz besonderen Event an einen ganz besonderen Ort: “30 Jahre C-Klasse / Back to the Roots” im Nardò Technical Center in Süditalien.

Es ist die bis heute schnellste Prototypen-Teststrecke der Welt, auf der Mercedes-Benz gleich mehrere Rekorde souverän hält. Unter anderem ist das eben der des “Sechzehnventilers” 190 E 2.3-16 der damals neuen Baureihe 201: 50.000km Volllastfahrt bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 247 km/h, und das ohne technische Probleme. Einer von gleich mehreren Weltrekorden, den dieses Fahrzeug bei dieser Fahrt aufgestellt hat und noch immer hält!

Rund 30 internationale Journalisten sollen 30 Jahre danach selbst ausprobieren dürfen wie es ist, den kleinen “Babybenz” an der Wiege seines Erfolgs zu erleben und selbst fahren zu dürfen. Dazu stehen alle relevanten Motorisierungen und Modelljahrgänge zu Verfügung. Unter anderem auch der Bandabgänger von 1993: ein 190 E 2.6. Als Ausstellungsfahrzeuge sind drei nie realisierte Studien zu bestaunen, sowie einige besondere Exemplare der Nachfolgebaureihen 202-204, die ebenfalls teils selbst gefahren werden können.

Der unangefochtene Star: eines der drei originalen Rekordfahrzeuge von 1983, ein 190 E 2.3-16 in rauchsilber-metallic, dank der Patina seiner Rekordfahrt aber jetzt eher schwarz-beige-matt. Er soll nach 30 Jahren erstmals wieder auf dem Hochgeschwindigkeitsrund fahren – und wird in der Tat die Kuh fliegen lassen!

Als Experten und Interviewpartner vor Ort (im Bild v.l.n.r.):

Manfred von der Ohe, Vordenker der Raumlenkerachse
Dr. Jörg Abthoff, Chefkonstrukteur des M102 Sechzehnventilers
Prof. Dr.-Ing. Werner Breitschwerdt, Vater u.a. des W201 und W126, später Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG
Frank Knothe, “Stiefvater” der Raumlenkerachse, später Leiter Gesamtfahrzeugentwicklung S-, SL- und SLK-Klasse
Gerhard Lepler, Leiter Team “grün” bei der Nardò-Rekordfahrt, später Projektleiter DTM
Robert Schäfer, Rekordfahrer von Nardò, später Leiter Versuchstestfahrten Nürburgring und Hockenheimring

Nicht im Bild oben vertreten:

Michael Buck, Entwickler eines Elektrofahrzeugs mit Gleichstromantrieb auf Basis des 190ers
Peter Lehmann, der einen 190 D im Jahre 2009 mit einem modernen Turbodiesel OM 651 als Demonstrationsfahrzeug aufbaute

Robert Schäfer und Mika Häkkinen

Ausserdem kein geringerer als der zweimalige Formel-1-Weltmeister Mika Häkkinen, der den anwesenden Journalisten intensive “Taxifahrten” in einem C63 AMG der Baureihe 204 bieten würde.

Eingeladen und mit Spannung erwartet, aber dann leider kurzfristig erkrankt, war Erich Waxenberger, Galionsfigur im Mercedes-Benz-Motorsport und Entwickler außergewöhnlicher Fahrzeuge. In Nardò ’83 leitete er das Siegerteam “rot”, dessen Pilot u.a. Robert Schäfer war

Nardò ist als Teststrecke im Dauerbetrieb. Hier erproben die Hersteller ihre Prototypen teils völlig ungetarnt, und das rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr. Entsprechend streng sind die Auflagen für den Aufenthalt “Dritter”. Dass Mercedes-Benz-Classic ein Presse-Event dieses Kalibers an solch einem Ort austragen darf, ist allein schon ein organisatorisches Kabinettstückchen. Der Wermutstropfen für die Journalisten: keine eigenen Kameras! Daimler stellt die Fotografen. Vier sind es an der Zahl, drei Profis – und ich!

Robert Schäfer (Rekordfahrer von 1983), Prof. Dr.-Ing. Werner Breitschwerdt (Vorstandsvorsitzender Daimler-Benz AG 1983-1988) und der einarmige Fotograf | Foto: Daimler AG

Eine große Ehre und ein unverhofftes Ticket zu einer Veranstaltung, deren Teilnahmemöglichkeit nicht mit Gold zu bezahlen ist. Auch ein Gipsarm wegen eines zertrümmerten rechten Handgelenks sollte mich nicht stoppen, mit einem 30 Kilo schweren Koffer voller Ausrüstung mitten unter der Woche über Rom nach Brindisi und weiter nach Lecce zu reisen, um dort im zunächst kleinen Kreise ein dreitägiges Spektakel zu erleben, das wohl nur ein echter Fan so intensiv erleben kann wie ich es tat.

Entsprechend ausführlich möchte ich hier darüber berichten. Ich war nunmal der “Maulwurf”, der durch einen sehr glücklichen Umstand als Fotograf “getarnt” dabei sein durfte – stellvertretend für viele Fans der Baureihe 201 und des Sechzehnventilers, die das Ticket wohl allesamt mehr verdient hätten als ich. Damit nun trotzdem alle etwas davon haben, schreibe ich diese Reportage. Das hier ist Teil 1 :-)

Benzingespräche im engsten Kreis

Anreise am Mittwoch, Flug über Rom nach Brindisi, Einchecken im Hotel Patria Palace in Lecce. Mein einziger, riesiger Koffer mit allem Equipment geht in Rom nicht mit in den Anschlussflieger und reist wohl erst später an. Hoffentlich!

Dadurch geht es leider ohne Umziehen abends zu einem ersten Dinner des MB-Classic-Teams und der Zeitzeugen in der wunderbaren Rooftop-Lounge des Risorgimento Resort, das Hotel, in dem dieVIPs untergebracht sind. Ein noch kleiner Kreis, da die Journalisten erst am darauffolgenden Tag anreisen würden. Und ein erstes, unschätzbares Privileg für mich, hier mit den Organisatoren und den “lebenden Legenden” einen ungezwungenen ersten Abend verbringen zu dürfen.

Robert Schäfer bietet auch in Nardò seine “Taxifahrten” an – hier im C 55 AMG Medical Car der Formel-1-Saison 1998 (Baureihe 203)

Bei einem Begrüßungstrunk komme ich schon direkt ins Gespräch mit Robert Schäfer, den ich bereits aus den kurzen Interviewschnipseln der vergangenen Wochen wiedererkenne. Ein ungemein sympathischer und kameradschaftlicher Mensch! Der Rekordfahrer von Nardò, der später die Leitung über die Versuchsfahrten auf Nürburgring und Hockenheimring übernahm, ist seit 2007 im Unruhestand. Dass man ihm das Rentenalter nicht ansieht hat auch damit zu tun, dass er nicht wirklich im Ruhestand ist, sondern sich derzeit u.a. als Taxifahrer betätigt. Nicht in seiner Heimat Neckarsulm, sondern in der grünen Hölle der Eifel –  natürlich!

Schäfer hat Erlebnisse abrufbereit, die jedem Mercedes-Fan entweder eine Gänsehaut auf die Unterarme und/oder ein süffisantes Grinsen ins Gesicht zaubern. Beispielsweise von Erlkönigfahrten mit dem ML55 auf dem Nürburgring, mit dem es (wenigstens für einen versierten Fahrer wie ihn) spielend möglich war, eine Rotte 911er in der Kurve aussen (!) zu überholen.

An die Rekordfahrt von Nardò erinnert er sich natürlich in nahezu jedem Detail und dürfte als Ehrenmitglied des Mercedes-Benz W201 16V Club e.V. seine Erlebnisse vom August 1983 sicher mehr als einmal zum besten gegeben haben. Ein wenig Glück im Unglück sei eben auch mit dabei gewesen, als er mit Team “rot” als erster der drei Teams die Rekordmarke von 50.000 Kilometern durchbrochen hatte. Als unerwartet Regen einsetzte, waren die Teams “weiß” und “grün” vor ihm an der Box, um von Slicks auf Regenreifen zu wechseln. Schäfer mußte auf einen freien Platz warten und dadurch noch zwei Runden weiterfahren. So konnte er seinen ohnehin schon vorhandenen Vorsprung hinsichtlich der zurückgelegten Strecke noch weiter ausbauen.

Team “grün” hatte derweil weniger Glück. Kurz vor Erreichen der Rekordmarke brach ein Verteilerfinger. Teamleiter Gerhard Lepler, der jetzt ebenfalls neben uns in der Dach-Lounge des Hotels steht, nimmt das bis heute sportlich und stößt darauf mit uns an. Sein Team erreichte trotzdem das Ziel – sogar in einer hervorragenden Zeit. Aber wie?

Dr. Jörg Abthoff (Konstrukteur des M102 Sechzehnventilers) und Gerhard Lepler (1983 Chef des Teams “grün” und später Projektleiter des DTM-Engagements von Mercedes-Benz) unmittelbar nach dem “Haubentauchen” am Rekordfahrzeug

Die Rekordfahrt fand damals unter strenger Aufsicht der FIA statt. Es waren nur Reparaturen mit Ersatzteilen erlaubt, die die Fahrzeuge selbst mit sich führten. Deshalb besaßen alle drei Limousinen ein kleines Teilelager anstelle einer Rücksitzbank. Groteskerweise fand keines der mitgebrachten Ersatzteile Verwendung – bei keinem der drei Fahrzeuge. Weil der Verteilerfinger als unkaputtbar galt, wurde ausgerechnet dafür kein Ersatz mitgeführt. Es mußte improvisiert werden – aber FIA-konform! Irgendwo aus dem Innenraum des Fahrzeugs mußte dringend eine Ersatzelektrode für den Verteiler gefunden werden. Fündig wurde man in der Hemdstasche des Piloten: das Stanniolpapier seiner Zigarettenschachtel machte den Wagen wieder provisorisch mobil. Eine unglaubliche Geschichte!

Manfred von der Ohe | Foto: Daimler AG

Es entflicht sich ein spannendes Gespräch, das weitere Gäste anzieht. Manfred von der Ohe und Frank Knothe gesellen sich hinzu. Beide sind wesentlich dafür verantwortlich, dass der “Babybenz” auch als “Sportmercedes” bekannt wurde. Von der Ohe leistete die Vorarbeit für die Entwicklung der innovativen Hinterachs-Konstruktion des W201, was ihm den Titel “Vater der Raumlenkerachse” eintrug. Als ich ihn auf diesen Ehrentitel anspreche, wiegelt er ab. “Ich mag zwar der Vater sein, aber er ist sozusagen die Mutter” und deutet auf Frank Knothe, seinerzeit Leiter der Gesamtfahrzeugentwicklung, der die Raumlenkerachse übernahm und zur Serienreife entwickelte.

Frank Knothe und Dr. Jörg Abthoff | Foto: Daimler AG

Der spätere Baureihenchef für S-, SL- und SLK-Klasse nimmt die verbale Geschlechtsumwandlung mit Humor – später im Videointerview mit fünfkommasechs.de wird er diese Bezeichnung sogar selbst aufgreifen. Und ebenfalls in diesem Video werde ich nochmal meine Frage wiederholen, warum der W201 schon 1982 die Raumlenkerachse hatte, mein V126 aber auch nach der Modellpflege von 1985 noch bis 1991 weiter mit Schräglenkerachse produziert wurde. Ich hielt diese Frage für ungemein klug und investigativ. An den Gesichtern der Ingenieure mir gegenüber konnte ich aber ablesen, daß ich mich gerade als technikfern geoutet hatte ;-) Sehr höflich, aber eben doch auch unterdrückt amüsiert nahm Herr Knothe mir jede Hoffnung, dass der 126er “Mopf” noch die “Stängeles-Achse” (schwäbisch für Raumlenkerachse) hätte bekommen können. Zu groß wären alleine die räumlichen Unterschiede gewesen. Eine völlig andere Bodengruppe hätte hergemusst.

Die Wundermaschine (M102 16V) im Rekordfahrzeug, ihr Konstrukteur Dr. Jörg Abthoff (rechts) und ihr “Fitnesstrainer” Manfred Oechsle vom Classic Center Fellbach, der den Wagen für die Veranstaltung wieder fahrbereit gemacht hat. Man beachte die beiden originalen Handknäufe auf dem Ventildeckel, um diesen während der Rekordfahrt 1983 im Rahmen des fünfminütigen Wartdungsdienstes an der Box auch bei heißem Motor schnell abnehmen zu können.

Die Herrenrunde wurde immer größer, und die Kellner hatten Mühe, um unser Benzingespräch herum zu manövrieren, als sich mit Dr. Jörg Abthoff der nächste reifere Herr zu einer Vaterschaft bekennt. Sein “Baby”: der M102 “Sechzehnventiler”, der dem erfolgreichen Rekordversuch von 1983 überhaupt erst den Anlaß gab. Herr Dr. Abthoff, gebürtiger Sachse und voll-integrierter Schwabe (beides hörbar) schwärmt vor allem vom Klima des Pioniergeistes. Innovationen seien nicht von einem Management vorausgeplant worden, sondern gleichsam “passiert”. Abthoffs Vierventiltechnik oder auch die Ohesche Raumlenkerachse waren im wesentlichen Eigeninitiativ-Produkte ihrer jeweiligen Entwicklungsabteilungen, die dann den Leitern und Vorständen präsentiert und für die weitere Ausarbeitung vorgeschlagen wurden. Selbstverständlich habe aber nicht immer alles davon den Weg in die Serie geschafft.

Vielleicht war es ein solcher C 36 AMG, auf jeden Fall aber ein W202, mit dem in den 1990er Jahren dem ABC-Fahrwerk hier in Nardò die Serienreife bescheinigt wurde

Entwicklungschef Knothe bricht jedoch auch eine Lanze für die nachfolgenden Tüftlergenerationen aus dem Hause Mercedes. So sei beispielsweise das ABC-Fahrwerk (“Active Body Control” – Ausgleich von Wankbewegungen der Karosserie durch aktive Federbeine) Mitte der Neunziger Jahre hier in Nardò erprobt worden und habe nicht nur ihn dabei so restlos überzeugen können, dass es seinen Weg aus der Forschung nahezu direkt in die Serie fand, nämlich im S-Klasse-Coupé von 1999, dem C215, den Knothe als Baureihenchef verantwortete. Das Erprobungsfahrzeug in Nardò war übrigens eine C-Klasse der Baureihe 202!

Apropos: was fährt ein “alter Daimler”, wie sich die Mercedes-Ruheständler selbst nennen, eigentlich privat? Herr Knothe fährt R107, was zum Baureihenchef u.a. der SL-Klasse (ab 1994)wunderbar passt. Der Pflichtklassiker sozusagen. Daneben steht aber auch ein Austin Healey in der Garage. Herr Dr. Abthoff hat sich einen CLS Shooting Break in die Garage gestellt. Und Herr von der Ohe schwärmt von seinem smart fortwo, den er für den Stuttgarter Stadtverkehr bevorzugt, wenn er von einer Seite der Stadt zum Tanzverein auf der anderen Seite pendelt.

Für Überlandfahrten komme aber ein S204 zum Einsatz. Die Distronic Plus sei einfach ein Traum für entspannte Landstrassenfahrten durch den Schwarzwald, bei denen er und seine Gattin für ihr Leben gerne Hörbüchern lauschen. Mein Bild im Kopf vom fast schon zu klischeehaft harmonischen Ruheständlerpaar war perfekt – und wurde dann doch jäh zum Einsturz gebracht. Das T-Modell brauche er für den Transport seines Surfbretts, sagt der 74jährige zierliche Herr mit Platte fast beiläufig.

Ja, wir hatten alle richtig gehört! Herr von der Ohe pflegt nicht nur Windsurfen als sein Hobby, er fliegt auch mindestens zweimal im Jahr nach Fuerteventura, um dort an der Nordküste durch die hohen Brecher des Atlantiks zu schneiden.

Das sind die Dinge, die man wohl nirgendwo sonst über die Menschen hinter den Rekorden von Nardò lesen kann. Aber gerade diese Details und wundervollen Anekdoten komplettieren für mich das Bild, das man von dieser Generation der Macher haben sollte. Die 50.000km von Nardò sind letztlich nur eine Zahl, ein griffiger Wert für die Belastbarkeit einer neuen Technologie. Die eigentliche Leistung liegt im Zusammenhalt eines großartigen Teams, das letztlich nur deshalb diese Bestmarken erreichten konnte, weil es sich auch aus solch ungewöhnlichen Persönlichkeiten rekrutierte. Echte Originale!

Das Rekordfahrzeug und seine Baureihengeschwister wieder vereint auf der 12,6 km langen Kreisbahn von Nardò im November 2013

Ich durfte am Abend des 13. November 2013 dieses große Jubiläum mit ihnen feiern. Es gab viel zu lachen, auch viel Nachdenkliches und immer wieder Hochinteressantes zu erfahren. Als Fremder auf einem “Klassentreffen der älteren Jahrgänge” zu sein und trotzdem sofort mit integriert zu werden – das alleine hatte schon gereicht, um mich restlos zu begeistern. Doch das sollte erst der Anfang sein!

Original: 5komma6

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