S-Klassizismus und Esperanto: unsere ersten eigenen Eindrücke vom Interieur der Baureihe 222 (VIDEO)
Nachmittags war ich fast eine Stunde hoch über den Wolken mit ihr alleine, und doch dauerte es noch bis zum späten Abend, bis wir uns wirklich näher kennenlernen würden: die neue S-Klasse und wir Pressevertreter der S-Klassik. Höchste Zeit für ein kleines Gedächtnisprotokoll vom Abend des 15. Mai, dem Tag der Weltpremiere der Baureihe 222 in Hamburg-Finkenwerder, als wir schonmal Probe sitzen durften im neuen Flaggschiff von Mercedes-Benz.
Metallisiertes Holz statt Rauchersalon
Das auffälligste Detail am Innenraum dieses besonderen S 500 L ist für mich zunächst das silbergraue “designo-Holz Esche metallisiert”. Aus einem “geht ja mal gar nicht” beim Sichten erster Pressefotos wurde ein wohlmeinendes “hmmm” nach dem ersten Einsteigen. Im Hinterkopf schwirrt zwar noch die Assoziation kalter Grabmal-Ästhetik, Stilrichtung Familiengruft mit polierter Marmordeckplatte. Aber mit den eigenen Augen betrachtet sieht das absolut stimmig und beinahe wohnlich aus.
Versetzt man sich dabei in einen weißen Seidenanzug und ein noch maritimeres Umfeld als die Halbinsel Finkenwerder in der Elbe, nämlich beispielsweise auf die Boulevards entlang des Mittelmeers oder auch des Persischen Golfs, dann paßt diese Luxuslimousine mit ihrem silbrigen Eschenholz wie maßgeschneidert ins Ambiente.
Meins ist das trotzdem nicht, aber diese neue Materialkreation aus Daimlers Advanced Design Studio am Lago di Como scheint der perfekte Blend aus kühlem “brushed metal” und wohnlichem Edelholz zu sein, mit dem sich der Corona rauchende Konzernlenker im S-Klassiker einst gern umgab. Heute raucht der Konzernlenker E-Zigarette, Wasserpfeife oder am besten gar nicht und sitzt in Regionen, die zu Zeiten des 126ers noch auf keiner strategischen Karte bei Daimler verzeichnet waren: Russland, ehemalige Ostblockstaaten, China, Mittlerer Osten.
Das bedeutet keineswegs, daß die neue S-Klasse nun verstärkt orientalisch oder asiatisch geprägt wäre. Der 222 ist eher Esperanto als Multikulti: ein wohlkomponiertes Welt- und Wellness-Design, das aber (bis auf einige Verspieltheiten im Detail, zu denen ich noch komme) keineswegs Verrat an ureigenen Daimlertugenden begeht. Und es gibt wirklich kein Detail, das nicht dem Anspruch höchster Wertigkeit entspricht. Zumindest haben wir in den wenigen Stunden in Hamburg nichts dergleichen entdecken können.
Immerhin sitze ich hier ja nicht nur in der offiziell sechsten Generation der S-Klasse, sondern zugleich auch im Nachfolger des Maybach, und das merkt man der “Über-S-Klasse”, als die sie der Kollege Dreikommanull gern bezeichnet, durch und durch an.
V222: A Space Odyssey
Bleiben wir doch noch ein wenig bei der Stilistik selbst: der Innenraum meines fliegenden Fünfhunderters in der Langversion V222 hat durchaus etwas vom Setdesign in Kubricks “2001: A Space Oddyssey” , und zwar Daves Traumsequenz. Ein paar fast barocke Elemente wie etwa die gesteppte Auskleidung der Armaturentafel werden gekontert von vorwiegend bernsteinfarbener Grafik auf den Hauptdisplays und blauen LEDs in den Bedienfeldern. Alles fügt sich harmonisch in das luftig helle Gesamtbild, das durch die ausgeklügelte Illumination wie aus einer anderen Welt zu stammen scheint und trotzdem auf Anhieb seltsam vertraut ist. Es fehlt eigentlich nur der schwarze Monolith, und der war wohl ich selbst in meinem schwarzen Dress und diesem Moment voller faszinierender Eindrücke.
Luxus mit großem Lastenheft
Es dabei allen recht zu machen und trotzdem nicht stillos zu werden dürfte ein Akt der Unmöglichkeit sein. Die S-Klasse Baureihe 222 darf aber wohl als bislang vielversprechendster Versuch gelten.
Das entnehmen wir nicht nur unserem eigenen Redenhören oder dem allgemeinen Presse-Echo, sondern überraschenderweise auch der Aussage vieler, die sonst grundsätzlich skeptisch oder ablehnend allem neuen aus dem Hause Mercedes gegenüber stehen: Euch Klassik-Liebhabern, die sich uns gegenüber bislang ebenfalls überwiegend positiv zur neuen S-Klasse geäußert haben. Und das hat uns durchaus überrascht! Solltet Ihr das bestätigen oder dementieren wollen: die Kommentarfunktion steht Euch jederzeit dazu offen.
Braucht man den elektronischen Duftbaum wirklich?
Am ehesten noch auf Kritik – oder besser: Amüsement – stößt dabei die Sonderausstattung “AIR BALANCE Paket”, und davon eigentlich auch nur die Funktion der Beduftung. Kollege Dreikommanull hatte sich an dieser Stelle und auch im Live Talk in Hamburg schon intensiv diesem Thema gewidmet.
Ich darf für mich behaupten, daß ich dieses Feature bei aller Originalität immer schon als das uninteressanteste aller Neuerungen des 222 ansah. Achselzuckende Zurkenntnisnahme statt höhnischem Grinsen trifft es ganz gut. Für mich ist es weder ein Anzeichen spätrömischer Dekadenz im Automobilbau noch ein bahnbrechendes “USP”, aber seit Hamburg weiß ich: es ist mindestens “nice to have”, angesichts des vergleichsweise geringen Aufpreises im Verhältnis zum Duftflacon im Maybach “Zeppelin” sowieso.
Was also ist nun der tatsächlich wahrnehmbare Unterschied zwischen Duftbaum und Beduftungsanlage? Nun, der Duftbaum überdeckt Gerüche und nervt, die Beduftung ist hingegen äußerst subtil, erfolgt präzise gepulst und hat wohl auch dadurch einen erfrischenden Effekt auf das Raumklima, der nie aufdringlich ist. In Verbindung mit der ebenfalls im AIR BALANCE Paket enthaltenen Ionisierung dürfte das in etwa vergleichbar sein mit dem Anziehen eines frischen Hemdes: der würzige Herrengeruch am Ende eines terminreichen Business-Tages weicht einer angenehmen “Weichspülernote” in der Wahrnehmung, dem virtuellen “frischen Oberhemd” eben.
Da ich die wesentlich ältere Sonderausstattung “Sitzbelüftung” aus dem Alltag kenne, und sie in meiner E-Klasse gerne meinen Beifahrern auf längeren Geschäftsfahrten anbiete, weiß ich auch um den bisweilen etwas unangenehmen Nebeneffekt dieser Sitzklimatisierung am möglicherweise schweißnassen Rücken. Der dürfte mit einem solchen Air Balance-Paket weitgehend neutralisiert werden. So gesehen ist die Innenraumbeduftung nur die logische Vervollkommnung bereits bestehender segensreicher Sonderausstattungen im Premium-Segment.
HD-Grafik statt Tachonadel
Ein anderes großes Diskussionsthema sind die neuen Displays in der S-Klasse. Die Frage “braucht man Displays statt klassischer Rundinstrumente im Kombi-Instrument?” stellt sich meiner Meinung nach nur für jemanden, der auch weiterhin einen Röhrenfernseher einem HD-Beamer vorzieht, nur weil es das schönere Möbel ist. Als Kunstliebhaber könnte ich das sogar gut verstehen, aber als videophiler Mensch kann ich nur vehement widersprechen.
Nein, ein Auto, das Gefahren vorausahnen, im Dunklen sehen, sein komplettes Umfeld bis in die Ferne beobachten, Schutzreflexe entwickeln, den Sonnenstand und Windrichtung analysieren, die Umgebungsluft riechen, Verhaltensmuster des Fahrers interpretieren, die Straße fühlen und sich selbst permanent und vollumfänglich diagnostizieren kann, braucht manchmal mehr als Tacho, Tankanzeige und Drehzahlmesser. Und meistens braucht es trotzdem nur das. Was also liegt näher als die virtuelle und bedarfsgerechte Darstellung solcher Funtionen in zwei hochauflösenden Displays, die man nach wenigen Minuten nicht einmal mehr als Displays wahrnimmt?
Nur so kann eine wesentliche der eingangs erwähnten Daimlertugenden in die Gegenwart transportiert werden: die Konditionssicherheit. Der Fahrer darf zu keinem Zeitpunkt mit unnützen Informationen überfordert werden, sollte aber stets über die relevanten Dinge im Bilde sein. Ein Kapitel für sich, zumal die nachgeordnete Frage nach dem trotzdem fehlenden Head-Up-Display weiterhin und wohl noch bis ins Modelljahr 2014/2015 von Stuttgart unbeantwortet bleibt.
Ihr seht es auch im Video oben: Displays finden sich nicht nur im Cockpit, sondern auch im Fond unseres S 500 L, und die brennende Frage für viele ist, warum es – ebenso wie vorne – keine Touchscreenfunktion gibt. Für mich liegt die Antwort sprichwörtlich auf der Hand: ein Touchscreen verschmutzt schnell und erfordert größere Bewegungen als die Bedienung per auf der Armlehne ruhender Hand. Gerade für die vorderen Insassen ist die Bedienung wie bspw. beim älteren COMAND-System beschwerlicher als über die Dreh-Druck-Bedienung und das Tastenfeld auf der Mittelkonsole.
Man versuche einmal als Beifahrer, bei hohem Tempo und entsprechenden Quer- und Längsbeschleunigungen mit dem ausgestreckten Arm ein Tastenfeld oder Touchscreen an der Armaturentafel fehlerfrei zu bedienen. Der Fond-Fahrgast im 222 hat aus diesem Grunde eine Bluetooth-Fernbedienung in Smartphone-Optik.
Bunte LED-Landschaft in sieben Geschmacksrichtungen
Beschließen wir mein kleines Sammelsurium der Ersteindrücke mit einem vielleicht marginalen Kritikpunkt an der neuen S-Klasse: der Ambientebeleuchtung.
Die wird – wie alle sonstige Beleuchtung im und am Fahrzeug – per LED erzeugt und kann in 7 verschiedenen Farben abgerufen werden. Grundsätzlich eine in dieser Güte und Umfänglichkeit wohl nie dagewesene Implementierung, die den Innenraum wahrnehmungspsychologisch auf die Größe eines “Condos” anwachsen läßt. Ich mag das sehr!
Doch mein erster, pragmatischer Gedanke war: warum ist das nicht stufenlos über Farbkreis und Helligkeitsregler einstellbar? Stattdessen wählt man vergleichsweise umständlich im Menü aus Presets, wobei die Einstellung selbst in wenig daimleresquer Verspieltheit per Fahrzeug-Drehteller-und-Röntgenblick-Animation im zweiten Hauptdisplay vorgeführt wird (siehe Video weiter oben). Wenn beim ABC-Fahrwerk die Dämpfercharakteristik stufenlos wählbar ist, warum dann nicht erst recht auch die Lichtstimmung im Innenraum?
Ein Erklärungsansatz: alle angebotenen Farben wurden unter psychologisch-soziologischen Aspekten evaluiert und vordefiniert. Dann aber stellt sich mir die Frage, warum es in der Auswahl auch dieses quietschige pink zu diesem ansonsten so erhaben wirkenden Innenraum gibt? Die mögliche Antwort sitzt kurz nach dem Ausprobieren plötzlich neben mir: ein quirliger Asiate mit Retro-Kamera vorm Gesicht und kunterbunten Schürstiefeletten nimmt plötzlich aufgeregt Platz und dokumentiert dieses elektronische Kirschblütenfest so eifrig, als könnte es gleich wieder durch das von mir bevorzugte warmweiß jäh unterbrochen werden.
Fazit: der 222 setzt in puncto Wertigkeit und Luxus im Innenraum den Bechmark in seinem Marktsegment, genau wie es einst der W126 und der W140 taten, und bietet dabei für jeden etwas, auch für S-Klassik-Liebhaber. Oder habt Ihr etwa nicht auch das 108er-Lenkrad auf den Fotos und im Video wiederentdeckt?
Original: 5komma6