Bizzarrini P538
Der Geheimnisvolle
Die Geschichte der einzelnen Automobile der Marke Bizzarrini ist zu einem grossen Teil verworren. Und wenn es um den Bizzarrini P538 geht, dann wird es richtig kompliziert. Wohl nicht einmal Giotto Bizzarrini selber weiss, wie viele dieser Fahrzeuge in welcher Konfiguration gebaut wurden. Was aber nichts daran ändert, dass der P538 einer der faszinierendsten Sportwagen überhaupt ist.
Man müsste jetzt hier zuerst die Geschichte der Iso A3/C und der Bizzarrini GT 5300 erzählen, das machen wir dann noch (ein schönes Exemplar zeigen wir: hier). Nur soviel: Giotto Bizzarrini hatte im Auftrag des italienischen Industriellen Renzo Rivolta zuerst den Iso Rivolta 300 konstruiert, dann den Grifo. Damit wollte Bizzarrini Rennen fahren, Rivolta aber nicht; der Ärger war programmiert, die Trennung unausweichlich. Es gab dann Iso mit der Bezeichnung A3/C, die sich Bizzarrini selber baute und bald schon unter seinem eigenen Namen verschacherte, eben: GT 5300. Diese Geräte wurden auch bei Rennen eingesetzt, sogar mit einigem Erfolg, Class Winner in Le Mans, doch der Konstrukteur wollte mehr, ganz nach oben. Und dafür musste ein echter Rennwagen her – mit Mittelmotor, wie das Bizzarrini schon in seiner Zeit bei Ferrari gefordert hatte.
(Vielleicht stimmt die Geschichte, wie wir sie hier erzählen. Vielleicht auch nur teilweise; wir geben uns Mühe, versuchen dabei, einigermassen logisch zu denken und die Zusammenhänge sowie Zeitfolgen zu respektieren. Vielleicht stimmt sie auch gar nicht, es ist noch so manches nicht logisch. Je mehr wir wissen, desto mehr Fragen haben wir selber – wir stellen sie uns mit den (Zahlen), die quasi Fussnoten sind. Oder auch gleich ganze Geschichten. Oder bloss Fragezeichen.)
Also konstruierte sich Giotto Bizzarrini einen Rennwagen (1). Und es war eine spannende Konstruktion: ein Rohrrahmen, der die (von Bizzarrini gezeichnete (2)) Karosserie trug und in dem auch gleich das Kühlwasser zirkulierte. Es gab rundum Einzelradaufhängung, vorne mit doppelten Querlenkern, hinten mit parallelen Schwingen; die belüfteten Bremsen stammten von Porsche. Seine Bezeichnung hatte der P538 von seinem Antrieb: P für «posteriore» (hinten), die 53 für die 5,3 Liter Hubraum des verbauten Corvette-Motors (der 5,4 Liter Hubraum hatte…), die 8 für die Anzahl der Zylinder.
Doch dann geschah dies: Der Amerikaner Mike Gammino war ein einigermassen talentierter (und reicher) Rennfahrer, gewann mit einem Ferrari 250 GTO etwa seine Klasse beim damals noch berühmten Rennen in Nassau auf den Bahamas. 1965 rannte er mit einem Iso A3/C, doch es stand ihm der Sinn nach einem echten Rennwagen, mit dem er an der CanAm-Series teilnehmen konnte. Er fragte bei Ferrari nach, stiess aber in Maranello auf taube Ohren. «They really weren’t that interested», wie Gammino erzählt. Und so wandte er sich an Giotto Bizzarrini, Konstrukteur sowohl des Ferrari 250 GTO und auch des Iso A3/C. Und Gamino hatte einen besonderen Wunsch: ein V12-Motor musste es sein.
Für Bizzarrini war der Wunsch nicht nur Befehl, sondern auch die Möglichkeit, sich den Traum seines Lebens zu erfüllen: einen Bizzarrini mit einem Bizzarrini-Motor zu bauen. Denn er hatte ja 1962 nach seinem unschönen Abgang bei Ferrari (3) im Auftrag von Lamborghini einen 3,5-Liter-V12 konstruiert. In Rekordzeit – und sicher mit Hilfe seiner alten Ferrari-Zeichnungen – baute er einen 3,5-Liter-V12 im 60-Grad-Winkel, mit vier obenliegenden Nockenwellen, Trockensumpfschmierung, einem Kurbelgehäuse aus Alu mit eingepressten Grausgusslaufbuchsen und sechs Fallstrom-Weber-Doppelvergasern. Auf dem Prüfstand schaffte die kurzhubige Maschine (Bohrung 77 Millimeter, Hub 62 Millimeter, Hubraum 3464 ccm) rennsporttaugliche 347 PS bei 8000/min; das maximale Drehmoment von 326 Nm fiel bei 6000/min an. Kleines Problem: Der von Bizzarini in Livorno konstruierte Motor passte nicht in die von Franco Scaglione in Turin gezeichnete und bei Sargiotto (Turin) gebaute Karosse des ersten Lamborghini, der den Namen Lamborghini 350 GTV trug; er sei zu hoch und zu lang gewesen (der Motor…). Es heisst, der trotzdem begeisterte Ferruccio Lamborghini habe sich diesen Motor gleich in einen seiner privaten Wagen einbauen lassen – in einen Ferrari.
Wie auch immer – es gab diesen V12, Lamborghini hatte ihm Manieren beigebracht und dem Hubraum auf 4 Liter vergrössert. Und so schritten Gammino und Bizzarrini nach Sant’Agata, um sich ein paar Exemplare davon zu sichern. Und – welch Wunder: Gian Paolo Dallara, Chefkonstrukteur bei Lamborghini, gab auch (mindestens) zwei Stück her. Dies wahrscheinlich, weil der Amerikaner sein Portemonnaie weit öffnete. Bizzarrini überarbeitete die Nockenwellen, polierte die Ein- und Auslasskanäle, erhöhte die Verdichtung und montierte wieder die sechs Weber-Fallstrom-Vergaser (42 IDL). Damit stieg die Leistung der Maschine auf beachtliche 420 PS.
Dann schlug wieder einmal das Schicksal zu, gnadenlos, wie so oft in der Geschichte von Bizzarrini. Zwar war der erste P538 (mit Lamborghini-Motor) Gammino versprochen, doch der grosse Meister wollte zuerst die Rennsporttauglichkeit seines Fahrzeugs testen. Also schickte er im frühen Februar 1966 den Schweizer Edgar Berney in La Spinate auf ein paar schnelle Runden. Doch Berney war im strömenden Regen zu schnell, kam – anscheinend schon nach acht Minuten – von der Strecke ab und beschädigte das Gerät schwer. So schwer, dass das Fahrzeug unbrauchbar war. Der Lamborghini-Motor, heisst es, sowie einige wenige Teile seien erhalten geblieben (4).
Und es gab ja noch ein zweites Exemplar. Mit dem hatte Bizzarrini eigentlich in Le Mans antreten wollen, doch er musste es an Gammino in die USA liefern. Der Amerikaner trat mit dem Bizzarrini aber nur zu einem einzigen Rennen an, schied dort früh aus und hängte danach gleich den Rennhelm an den Nagel. Das Fahrzeug verschenkte er an seinen Mechaniker. Vielleicht hat es sich tatsächlich so zugetragen, vielleicht aber auch nicht (5).
Es gab aber noch mehr P538, und zwar jene in der Konfiguration, wie Bizzarrini das Fahrzeug ursprünglich geplant hatte, also mit dem Corvette-Motor. Ein Exemplar wurde 1966 für die 24 Stunden von Le Mans gemeldet. Und wieder hieb der Schweizer Edgar Berney das Fahrzeug von der Strecke, schon in der 8. Runde. Ein zweiter Bizzarrini, ein klassischer 5300, kam immerhin 39 Runden weit. Im Jahr zuvor hatten Fraissinet/de Montemart auf einen A3/C noch den sensationellen 9. Gesamtrang geschafft. Wie auch immer – dieser dritte P538 erlangte trotzdem noch Berühmtheit. Er wurde, wird gerne erzählt, zur Basis des Manta von ItalDesign, doch das ist eine andere Geschichte, die wir auch noch erzählen wollen (6)/(7).
Denn die Geschichte ist vielleicht oder auch sogar wahrscheinlich anders. Anders als allgemein erzählt, gab es wohl keinen vierten P538, sondern P538*003 erhielt noch einmal ein neues Leben. Für die Saison 1967 wurde von der FIA wieder einmal das Reglement geändert, mindestens 25 Exemplare mussten gebaut werden, der Hubraum war auf 5 Liter beschränkt – und in Le Mans durften keine offenen Fahrzeuge mehr antreten. Bizzarrini hatte weder das Geld noch die Kapazitäten dafür, versah P538*003 mit einem Dach und versuchte das Fahrzeug als «Sport Prototyp» zu melden. Was aber nicht erlaubt wurde. Bei einem Meeting mit potentiellen Sponsoren bot er das Fahrzeug Amadeus von Savoyen an, dem Duca d’Aosta. Dieser war zwar interessiert, bemängelte aber die miserable Verarbeitung. Doch er bestellte sich ein neues, geschlossenes Fahrzeug, mit dem er auch Rennen fahren wollte. Seine Gattin legte allerdings ihr Veto ein – und so begann Bizzarrini in der zweiten Hälfte des Jahres 1967 mit dem Bau dieses Coupé. Allerdings ging es da mit seiner Firma schon bergab, und so wurde das Fahrzeug erst spät 1968 in Turin bei Salvatore Diomante fertiggestellt. Dass das Fahrzeug mit seinen Flügeltüren optisch sehr stark dem Alfa Romeo Tipo 33 Stradale ähnlich sieht, ist wohl kein Zufall. Den «Duca d’Aosta», der bei einem Test anscheinend eine Höchstgeschwindigkeit von 327 km/h erreicht haben soll, gibt es heute noch (8).
Damit könnte die Geschichte der Bizzarrini P538 eigentlich fertig erzählt sein. Doch es braucht schon noch einen Nachtrag, um auch ein bisschen das Chaos in der ganzen Historie der Marke zu erklären. 1968 musste Bizzarrini Konkurs anmelden. Was damals alles genau geschah, wird sich wohl nie mehr klären lassen. Man weiss nicht, welche Chassis tatsächlich verkauft wurden, was Bizzarrini selber zurückbehielt, wohin Motoren und Teile verschwanden. Über die Jahre kamen immer wieder «originale» P538 (und auch GT 5300) auf den Markt. Es ist nicht ganz einfach, diese Fahrzeuge einzuordnen, weil auch Giotto Bizzarrini selber immer wieder Zertifikate ausstellte, welche die Echtheit garantieren sollten. Das heisst aber nicht, dass ein Bizzarrini auch tatsächlich ein Bizzarrini ist – es muss bei jedem Wagen ganz genau geprüft werden, ob die Geschichte auch wirklich stimmt. Wie man ja gut sieht in dieser Geschichte der P538 (9).
(1) Es heisst, dass Bizzarrini (auch?) an einem Formel 1 gearbeitet habe (oder: gearbeitet haben könnte). Was durchaus vorstellbar ist, denn: ATS.
(2) Giotto Bizzarrini sagt, er habe den P538 wie schon den GT 5300 selber entworfen; Giorgetto Giugiaro behauptet, dass er sowohl den GT 5300 wie auch den P538 entworfen hat. Die beiden Herren Bizzarrini und Giugiaro waren gute Freunde, anscheinend: auch heute noch.
(3) Die Palast-Revolution: Im Herbst 1961 begab sich ein unschönes Kapitel in der Geschichte von Ferrari. Vertriebsleiter Girolamo Gardini hatte ein Problem mit Laura Ferrari, die grossen Einfluss auf Enzo Ferrari hatte und auch die Verkaufsstrategien bestimmen wollte. In der Folge musste Gardini gehen – und mit ihm nahmen der Direktor der Prototypen-Entwicklung, Giotto Bizzarrini, Entwicklungschef Carlo Chiti, der Rennleiter Romolo Tavoni sowie Fausto Galasi und Enzo Selmi den Hut.
(4) Zur Nr. 1 unter den P538, wir bezeichnen ihn hier in typischer Bizzarrini-Schreibweise als P538*001, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Wir versuchen hier, jener von Jack Koobs de Hartog in seinem Büchlein «Bizzarrini P538» zu folgen, auch wenn da nicht alles komplett logisch erscheint. Also, die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass P538*001 damals im Februar 1966 komplett zerstört wurde. Und trotzdem hat das Fahrzeug eine «lange Geschichte»:
1970: Chassis/Überreste verkauft aus der Konkursmasse von Bizzarrini.
1973: entdeckt von Rob de la Rive Box in der Nähe von Zürich, Schweiz.
1975: verkauft an Hans-Ueli Buchi (Büchi?), Schweiz.
1979: verkauft an Roelofs, Niederlande. (Da gibt es einen (zweifelhaften?) Brief von Giotto Bizzarrini vom 5.11.1980, in dem es heisst, dieses Fahrzeug sei ein «pre prototipo» gewesen.)
1981: über de la Rive Box wieder an Buchi (Büchi?) vermittelt, dies zum Preis eines Simca-Abarth-Getriebes…
1985: verkauft an Bruijn, Niederlande.
1987: verkauft an Soames Langton, England; wurde dort für 12’000 Pfund zum Verkauf angeboten.
1988: verkauft an Oliver Kuttner, USA; Restauration, Einbau eines Corvette-Motors.
1995: von Barrett-Jackson versteigert; den Zuschlag erhielt Michael Mac, Hongkong, für 196’875 Dollar.
später: Blackhawk Collection, USA
(5) Vielleicht, oder vielleicht eher: wahrscheinlich wurden diverse Teile von P538*001 für den Bau von P538*002 verwendet. Das Fahrzeug wurde hellblau lackiert, der Lieblingsfarbe von Gammino – und erhielt einen gelben Streifen. Am 18.9.1966 trat Gammino mit diesem Fahrzeug beim Rennen in Bridgehampton an, doch er schaffte es nicht einmal bis zum Start, weil die Ölwanne gebrochen war (was einen Motorschaden zur Folge hatte?)
Frühe 70er Jahre: verschenkt an Liberto «Lee» Giraldi (der nicht Gamminos Mechaniker war, sondern von Anfang an in das Fahrzeug investiert hatte; ihm gehörte eine Bau-Firma).
1977/8: verkauft an Mel Bowser, USA.
ca. 1980: verkauft an Earl Sowers, USA.
1982: verkauft an David L. George und William Knepshield, USA; Restauration bei DL George Coachworks (Januar 1984).
1987: angeboten von Barrett-Jackson als Lamborghini P538.
1988: gekauft von Jim Phelan.
1990: verkauft an Ulrich Buschmeier, Deutschland. Wurde aber anscheinend nie geliefert, denn P538*002 stand bis 2009 im San Diego Automotive Museum (ab 2003 anscheinend im Besitz von Rudolf deMoyer).
(6) Das ist zumindest die Geschichte, die allgemein bekannt ist, gerne erzählt wird (und vielleicht auch stimmt?). Jack Koobs de Hartog sieht das etwas anders: Ja, P538*003 trat am 18.6.1966 in Le Mans an, Startnummer 10, gemeldet waren Edgar Berney/André Wicky. Das Fahrzeug startete an 40. Stelle mit Berney am Steuer zum Rennen – und schaffte es zu ewiger Berühmtheit, denn Berney (anscheinend/vielleicht aufgrund eines neurologischen Problems?) bog gleich mal in die falsche Richtung ab, wurde zum Geisterfahrer. Er drehte zwar sofort wieder um, musste aber dem ganzen Feld hinterhereilen. Nach zwei Stunden gab er auf, ein Mechaniker hatte mit dem Wagenheber am Rohrrahmen rumgewerkelt, ging dieses zu Bruch, das Kühlwasser lief aus, das reine Chaos.
17.6.1966: Mugello, Startnummer 194, Antonio «Beppe» Nieri: DNF.
30.10.1966: Trofeo Citta di Orvieto, Startnummer 142, Giancarlo Naddeo: 4. Rang.
Und dann: nichts mehr.
Oder eben doch? Siehe: (8).
(7) 2009 soll Giotto Bizzarrini gesagt haben: «Dieser Manta ist überhaupt kein Bizzarrini. Ich hatte nichts damit zu tun. Es ist zu 100 Prozent gebaut von Giugiaros Italdesign». Wir haben uns den Manta während «Le Retour du Futur» genau angeschaut und mit Bildern von den P538 verglichen – und ja, da ist wirklich nicht viel Ähnlichkeit, das Chassis ist komplett anders aufgebaut, auch die Tanks sind anders. Es ist vielleicht oder vielleicht wahrscheinlich so, dass diverse Teile des «zerstörten» P538*001 und des «vergessenen» P538*003 für den Manta verwendet wurden, doch dass Bizzarrini ein komplettes Chassis samt Corvette-Motor an Giugiaro verkauft haben soll, erscheint (vielleicht?) unwahrscheinlich.
1968: innert 40 Tagen gebaut im September/Oktober für die 50. Torino Motor Show. Farbe: Blau-Grün-Aqua.
1969: ausgestellt in Tokio und Los Angeles. Farbe: Rot mit schwarz/weissen Streifen. Wurde dann von Zoll in Genua zurückgehalten bis in die späten 70er Jahre, soll dann von Giovanni Giordanengo gekauft und restauriert worden sein. Das Fahrzeug war vorher ein «rolling chassis», wurde dann aber fahrtüchtig gemacht. Und wieder im originalen Grün-Blau-Aqua lackiert.
1982: verkauft an Ulf Larssen, Schweden.
1988: in Italien ausgestellt zum 20. Jubiläum von Italdesign. Farbe: Silber.
1999: verkauft an Alberto Brener, USA.
2005: verkauft an Ron Spindler, USA
2008: ausgestellt am Genfer Auto Salon und am Concorso d’Eleganze Villa d’Este.
2018: ausgestellt am Genfer Salon, «Le Retour du Futur»
(8) 1968: ausgeliefert in Weiss mit einem grün/schwarzen Interieur, Chassisnummer #262 914.
1972: verkauft an Marco Paoletti, Italien (mit 2200 Kilometern)
1999: versteigert von Brooks in Genf an Michael Mac, Hongkong
2011: verkauft an David Scaife, USA.
(9) Das bei «Le Retour du Futur» 2018 auf dem Genfer Auto Salon ausgestellte und auf den Bildern gezeigte Fahrzeug gehört nicht zu den drei originalen P538, aber ist ein von Giotto Bizzarrini autorisierter Nachbau.
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