Die ersten Motorradweltrekorde
Rollie Free gab alles an jenem kühlen Montagmorgen im September 1948, sogar sein letztes Hemd. Als es auf dem Bonneville-Salzsee darum ging, die 150-Meilen-Marke zu knacken, warf der Amerikaner allen erdenklichen Ballast ab. Nur mit Badehose und Badekappe bekleidet (wie im Bild zu sehen), raste Free über die Piste. Bäuchlings auf dem hinteren Kotflügel seiner Vincent HRD Black Lightning liegend.
Das Ergebnis des wagemutigen Ritts: 150,313 Meilen oder gute 240 Kilometer pro Stunde. Der amerikanische Rekord war gebrochen, und der halbnackte Speedfreak hatte für eines der spektakulärsten Fotos der Sportgeschichte gesorgt. Die Geschichte der Bike-Weltrekorde haben jedoch andere geschrieben. Wäre es um die absolute Bestmarke gegangen, hätte Rollie Free mit seiner halsbrecherischen Aktion keinen Blumentopf gewonnen.
Bereits 1937 hatte Ernst Henne auf einer vollverkleideten 500er-Werks-BMW die Distanz von einem Kilometer mit fliegendem Start mit einem Schnitt von 279,503 km/h durchrast – ein Rekord, der 14 Jahre halten sollte.Die Jagd nach Tempo, Ruhm und Markenimage ist so alt wie das Motorrad selbst. Dokumentiert wird der Rausch der Geschwindigkeit vom Weltverband FIM seit 1920. Den Aufschlag machte der Amerikaner Ernest Walker, der seine 1000er-Indian am 14. April 1920 in Daytona auf 166,67 km/h beschleunigte.
Danach dominierten englische Fahrer und englische Marken das Geschehen. Oliver Baldwin schaffte es 1928 auf einer Zenith-JAP als Erster, die Barriere von 200 km/h zu durchbrechen.Die deutsche Motorradindustrie fühlte sich herausgefordert. BMW stieg 1929 erstmals in den Ring und lieferte sich mit den Briten in den 30er Jahren einen flotten Schlagabtausch. Im munteren Wechselspiel wurde die Rekordmarke stetig nach oben geschraubt bis zu jenen knapp 280 km/h von Ernst Henne, herausgefahren am 28. November 1937 auf einem gesperrten Teilstück der Autobahn Frankfurt–Darmstadt.BMW nahm den werbewirksamen Prestigekampf um das schnellste Motorrad der Welt zunächst mit Kompressor-geladenen 750er-Boxern in Angriff. Anfangs stemmte Ernst Henne die 75-PS-Renner unverkleidet in den Fahrtwind.
Erste Ansätze von aerodynamischen Verbesserungen probierten die Bayern an der Gabel und am Rahmenheck der Maschine sowie am Fahrer selbst aus: mit einem Helm in Tropfenform und einem spitz nach hinten zulaufenden Heckspoiler, den sich Henne einfach an den Hintern geschnallt hatte. Später bekamen die Maschinen stromlinienförmige Vollverkleidungen, die man im Windkanal der Zeppelin-Werke in Friedrichshafen auf die Erfordernisse der Rekordjäger trimmte. Einerseits war ein möglichst geringer Luftwiderstand, andererseits ein stabiler Geradeauslauf gewünscht.76 Rekorde hat der multitalentierte Ernst Henne – er fuhr auch Straßen-, Gelände- und Autorennen – in den verschiedensten Klassen und Distanzen zwischen 1929 und 1937 auf die Straße gebrannt. Seine letzte Marke, erreicht mit der über 90 PS starken 500er, wurde erst 1951 von einem deutschen Konkurrenzfabrikat gebrochen: NSU-Werksfahrer Wilhelm Herz düste mit Tempo 290 über einen Abschnitt der Autobahn zwischen München und Ingolstadt.Die Schallmauer von 300 km/h war nicht mehr weit. Um sie zu durchstoßen, zog NSU von den engen Asphaltpisten Europas in die endlose Weite der amerikanischen Salzseen, die bis heute das Mekka der Highspeed-Racer sind. Im Sommer 1956 trat Wilhelm Herz mit dem vollverkleideten, Delphin III genannten NSU-Renner in Bonneville/Utah an, um den inzwischen gültigen Rekord der britischen Konkurrenz von Vincent HRD zu kontern. Die Fahrten auf der topf-benen und 25 Meter breiten Fahrspur inmitten der riesigen Salzwüste waren nicht ohne Risiko. Da war höchste Konzentration angesagt. An einer Stelle gab es einen Einschnitt in den Bergen, da kam Seitenwind, erinnerte sich Wilhelm Herz an die Rekordversuche.Und den Reifen macht nicht nur das hohe Tempo zu schaffen, sondern auch die schlechtere Griffigkeit der Salzkruste im Vergleich zum Asphalt. Spektakuläre Stürze bleiben in Bonneville deshalb nicht aus. Auch die NSU-Expedition sammelte einschlägige Erfahrungen.
Als es am 4. August 1956 um die Wurst ging, lief die Flunder aus Neckarsulm, angetrieben von einem gut 110 PS starken 500er-Zweizylinder-Kompressormotor, jedoch einwandfrei in der Spur: Mit 338,092 km/h war Wilhelm Herz erneut der schnellste Motorradfahrer der Welt.Der Delphin, dessen Verkleidung mit der großen Heckflosse an einen Fisch erinnert, deutete den Trend der nachfolgenden Rekord-Bikes an: immer weiter weg vom Motorrad hin zu zweirädrigen Spezialfahrzeugen in Stromlinienform. Für die rasenden Zigarren wurde sogar eine eigene Klasse mit maximal drei Liter Hubraum geschaffen. Der absolute Weltrekord für Zweiräder mit Verbrennungsmotor kletterte bald in für Otto Normalfahrer schier unvorstellbare Dimensionen. 1978 knackte der Amerikaner Don Vesco die magische 500-km/h-Marke mit seinem Streamliner Lightning Bolt, befeuert von zwei 1000er-Kawasaki-Vierzylindern. 1990 markierte dessen Landsmann Dave Campos mit 518,372 km/h das bisherige Ende der Fahnenstange. Mit diesem Rekordritt – über die fliegende Meile ging es mit 518,449 km/h noch einen Tick schneller – darf sich das amerikanische Easyriders-Magazin schmücken, dessen deutsche Ausgabe monatlich im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich ist. Wer weiß wohin das ganze noch führt? Auf jeden Fall war das erst der Anfang der brutalen Geschwindigkeiten.