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Die Stromlinie von Mercedes

Published in fünfkommasechs.de
In der vor mehr als drei Jahrzehnten entworfenen “neuen S-Klasse” gibt es bekanntermaßen ein ganzes Arsenal an Meilensteinen der Ingenieurskunst. Viele dieser Juwelen sind im Verborgenen zu suchen und daber gerade ob ihrer Einfachheit an Genialität kaum zu übertreffen. Ein Beispiel sind die zwei separaten Abläufe im (automatisch beheizten!) Wischwasserbehälter. Der eine speist die eher unwichtige Scheinwerfer-Reinigungsanlage und liegt etwas höher im Behälter, der andere versorgt...

In der vor mehr als drei Jahrzehnten entworfenen “neuen S-Klasse” gibt es bekanntermaßen ein ganzes Arsenal an Meilensteinen der Ingenieurskunst. Viele dieser Juwelen sind im Verborgenen zu suchen und daber gerade ob ihrer Einfachheit an Genialität kaum zu übertreffen.

Ein Beispiel sind die zwei separaten Abläufe im (automatisch beheizten!) Wischwasserbehälter. Der eine speist die eher unwichtige Scheinwerfer-Reinigungsanlage und liegt etwas höher im Behälter, der andere versorgt die Scheibenwischer der Windschutzscheibe mit Reinigungsflüssigkeit und sitzt deshalb tiefer. Sinkt nämlich der Wasserpegel im Behälter und das kostbare Naß wird bedrohlich knapp, setzt der 126er so automatisch Prioritäten, und zwar auf die freie Sicht für den Fahrer.

Ein anderes Beispiel konnte ich gestern in Form der in den seitlichen Kofferraummulden verborgenen Entlüftungsklappen bewundern. Diese merkwürdigen Membrane sind Teil eines ausgeklügelten Luftführungssystems für Fahrgastzelle und Kofferraum, das heute selbstverständlich ist, in den Tagen seiner Entwicklung aber durchaus eine Pionierleistung war. Grund für die Freilegung war eine Säuberung und vorsorgliche Versiegelung des Kofferraums.

Wie auf der Zeichnung zu sehen wird die Luft dabei durch die Ansaugbereiche vor der Windschutzscheibe in die Fahrgastzelle geleitet. Von dort fließt sie an der Heckscheibe entlang unter die Hutablage, wo sie seitlich in die Kofferraumtaschen und von dort über besagte Entlüftungsklappen nach außen gelangt.

Sind Fenster und Schiebedach geschlossen, würde sich bei hochtouriger Ventilation sonst ein unangenehmer Überdruck im Fahrgastraum bilden. Ebenso beim Zuschlagen der Türen. Durch die dünnen Gummimembrane der Luftauslässe im Heck wird der Luftdruck aber immer sofort ausgeglichen, denn bei Druck von innen öffnen sie, bei Druck von außen bleiben sie verschlossen wie ein Rückschlagventil.

Befindet sich die Lüftung im Umluft-Modus, bleibt der Luftdruck neutral, die Entlüftungsklappen also verschlossen. Das aber natürlich nur, solange auch die Innenraumtemperatur konstant niedrig bleibt. Und dafür wiederum sorgt die Klimatisierungsautomatik, die im Umluft-Modus automatisch die Klimaanlage hinzuschaltet (auch wenn diese zuvor manuell ausgeschaltet war).

 

Besonders eindrucksvoll konnte ich das zusammen mit drei weiteren Insassen im knapp 17km langen Gotthardtunnel erleben.

Der Abgasgestank und auch die gestaute Hitze ist selbst beim nächtlichen Durchqueren unerträglich, die Entkoppelung von der Außenluft daher dringenstes Gebot. Während unserer fast viertelstündigen Fahrt durch diesen längsten Straßentunnel der Alpen versorgte uns die betagte S-Klasse zuverlässig mit einer konstant angenehmen Atmosphäre ohne die Spur von Abgasgeruch von außen. “Kein Kunststück”, möchte man sagen. Aber in den Achtziger Jahren war dieses System noch lange kein Standard.

Doch warum wird nicht wie bei den meisten anderen Autos damals durch die C-Säule entlüftet, sondern umständlich durch den Kofferraum? Nun, einerseits ist die Entlüftung in die geschützten Bereiche unter der Heckstoßstange auch bei hoher Geschwindigkeit praktisch frei von Staudruck. Andererseits wird der Kofferraum so ebenfalls gut durchlüftet, im Sommer gekühlt und im Winter beheizt. Und nicht zuletzt sorgt der Luftstrom auch dafür, stehender Feuchtigkeit in den Mulden vorzubeugen.

Stuttgarter Ingenieurskunst in bester Tradition der “Stromlinie”, Entlastung für Fahrer und Fahrgäste.


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